Portrait George Sand
(1804 - 1876)
 
»Ihr könnt Taten verfolgen, nicht aber Überzeugungen, das Denken muß frei sein.«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
.N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 41-48, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 41-48, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 39-48.

 

Aurora, die Morgenröte: welch poetischer Name für ein junges Mädchen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufwächst... Anmutig und anschmiegsam könnte diese junge Aurora sein, zart und zerbrechlich und gerade so kokett, wie es die gesellschaftlichen Spielregeln erlauben. Doch die Französin Aurore Dupin erfüllt keine dieser Eigenschaften. »Man hielt mich für sehr bizarr«, beschreibt sie später ihre Jungmädchenjahre. »Meine zarten Knochen waren abgehärtet. Mein Wille hatte die Kraft erlangt, körperliche Ermattung zu besiegen. Weder die alberne Putzsucht noch der Wunsch, allen Männern zu gefallen, beherrschten meinen Sinn.« Die sechzehnjährige Aurore, die bei ihrer Großmutter auf dem Landgut Nohant im Berry, südlich von Paris, lebt, hat sich nicht ohne Grund so »bizarr« entwickelt. Als Vierjährige verlor sie ihren Vater, den Oberst Dupin. Die Großmutter Dupin, die ihre Schwiegertochter ablehnte, nahm die kleine Aurore zu sich. 1817 schickte sie ihre dreizehnjährige Enkelin in das Kloster der Englischen Augustinerinnen in Paris, damit sie sich eine angemessene Bildung und standesgemäße Umgangsformen aneigne. Knapp drei Jahre lang lebte »Zögling Aurore« nach solchen klösterlichen Grundsätzen: »Jeden Tag werde ich zu einer bestimmten Stunde aufstehen... dem Schlafe nur die Zeit gewähren, die zur Aufrechterhaltung meiner Gesundheit notwendig ist, und niemals aus Trägheit im Bett bleiben... Ich werde sorgfältig vermeiden, mich nutzlosen Träumereien und fruchtlosen Gedanken zu überlassen, und mich niemals an Phantasiebildern ergötzen, über die ich erröten müßte, wenn man sähe, was in meinem Herzen vor sich geht...

Ich werde stets vermeiden, mit Personen des anderen Geschlechts allein zu sein...

Sollte man mir irgendeinen Antrag machen, geschehe es auch in der ehrenwertesten Absicht, so werde ich davon alsbald meine Eltern in Kenntnis setzen.«

Da die Mädchen im Internat unter strenger Aufsicht lebten, hatten sie ohnehin keine Möglichkeit, »mit Personen des anderen Geschlechts allein zu sein«. Aurore entwickelte sich unter dem Einfluß des Klosterlebens zu einem schwärmerischen jungen Mädchen, das die Bibel und das Leben der Heiligen und Märtyrer studierte und den intensiven Wunsch hatte, Nonne zu werden.

Mit solchen Auswirkungen allerdings hat Großmutter Dupin nicht gerechnet. Als sie von diesem Vorsatz Aurores hört, holt sie sie unverzüglich aus dem Kloster. Im Februar 1820 kehrt Aurore nach Nohant zurück. Das übermäßig behütete, nach strengsten Regeln erzogene Mädchen erlebt plötzlich eine Freiheit und Unabhängigkeit, die Aurore selbst »bizarr« vorgekommen sein muß. Eben noch mußte sie sich hochgeschlossen kleiden und durfte keinen Schritt allein gehen. Jetzt kümmert sich niemand mehr um sie: »In allen Dingen war ich mir selbst überlassen.« Die Großmutter kränkelt. Der Hauslehrer Dechartres, der bislang nur Knaben erzogen hat, rät Aurore, sich wie ein Mann zu kleiden. Sie zieht »Männerrock, Mütze und Gamaschen« an und begleitet ihn, wenn er auf die Jagd geht.

»Was mich betrifft, so fand ich meine neue Kleidung viel angenehmer zum Herumstreifen, als meine gestickten Röcke, die in Fetzen an allen Büschen hängen zu bleiben pflegten«, wird sie später über die Zeit schreiben - und sich weiterhin in Hosen zeigen, wenn ihr das Möglichkeiten erschließt, auf die sie sonst verzichten müßte. Sie wird die Großstadt Paris in Stiefeln und Männerkleidung durchstreifen, neugierig und wissensdurstig. Sie wird im Theater, in Kabaretts, Museen und Cafés im Männerkostüm sitzen - weil sie damit, ohne Aufmerksamkeit zu erregen und ohne auf Begleitung angewiesen zu sein, überall hin kann, wohin sie will. In dieser Aufmachung nämlich hält man sie für einen jungen Studenten. »Nichts wird mich daran hindern, das zu tun, was ich tun muß und tun werde«, schreibt sie. »Ich pfeife auf die Vorurteile, wenn mein Herz mir Gerechtigkeit und Mut gebietet.« Und: »Ich kümmere mich wenig um die Welt.« Ja, sie hat zu schreiben begonnen. Unter ihrem Kopfkissen verbirgt sie ihre ersten Skizzen. Sie ist siebzehn Jahre alt, als sie aufschreibt: »Der Gerechte hat im Sittlichen kein Geschlecht: er ist Mann oder Frau, gemäß dem Willen Gottes, aber sein Gesetz ist stets das gleiche, ob er nun Armeegeneral oder Familienmutter ist.« Und weiter notiert sie: »Da das innerste Gewissen der einzige Richter ist, halte ich mich für völlig befugt, es an Vorsicht fehlen zu lassen, falls es mir gefällt, allen Tadel und alle Verfolgungen zu erdulden, die gefährliche und schwierige Aufgaben nach sich ziehen.«

Als Aurores Großmutter stirbt, erbt die Siebzehnjährige das Landgut Nohant und ein Privathaus in Paris, das Hotel Narbonne. »Du verlierst deine beste Freundin«, ist der letzte Satz, den Aurores Großmutter kurz vor ihrem Tod zu der Enkelin sagt. Dechartres, der schrullige Hauslehrer, überredet Aurore zu einer merkwürdigen Zeremonie. Bevor die Großmutter beerdigt wird, soll Aurore mit ihm zum Grab ihres Vaters gehen, den Sarg öffnen und sein Skelett küssen. Sie findet das »ganz in Ordnung« und »durchaus nicht sonderbar«. Nein, Aurore fürchtet tatsächlich auch gefährliche und schwierige Aufgaben nicht. Um so erstaunlicher erscheint es, daß sie sich, noch keine achtzehn Jahre alt, ganz konventionell verheiratet und - gleichsam über Nacht - ihre geistige Arbeit aufgibt. Und zwar, das behauptet sie jedenfalls, »ohne das geringste Bedauern«. Aurore heißt jetzt Madame Dudevant und wird, pünktlich neun Monate nach ihrer Hochzeit, Mutter eines Sohnes. Ist Madame Dudevant glücklich? Einige Monate lang, das sicher. Aber dann... Es stellt sich heraus, daß die Eheleute kaum gemeinsame Interessen haben. Überdies kommt die junge Frau allmählich dahinter, wie wenige Rechte sie in der Ehe hat. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sie in ihren Romanen für die freie Liebe kämpfen und die Schranken einer liebesleeren Ehe verwerfen wird. Aber die Gedanken und Gefühle, die sie später zu Papier bringt, setzen sich jetzt in ihrem Kopf fest. »Überspannt und verstiegen« nennt Casimir Dudevant seine Frau Aurore. Schlimmer noch: In einem Päckchen, das er in seinem Sekretär aufbewahrt, hinterläßt er ihr als »Testament« ein dickes Bündel schlimmster Verwünschungen. Als Aurore es findet und liest, steht ihr Entschluß fest. Sie wird nicht einen Tag länger mit diesem Mann zusammenleben: »Bei Gott! Welch ein Testament! Verwünschungen, weiter nichts! Er hatte darin alle seine Anwandlungen von Mißgelauntheit und Zorn gegen mich zusammengetragen, alle seine Gedanken über meine Perversität, alle Gefühle der Verachtung wegen meines Charakters... Diese Lektüre hat mich endlich aus dem Schlaf gerissen!« Eine eigene Rente von dreitausend Francs jährlich fordert Madame Dudevant von ihrem Mann. Sie will sechs Monate des Jahres in Paris verbringen, die übrige, Zeit in Nohant. Das alles ab sofort und ohne jede weitere Diskussion. Sie tritt ihm so entschieden gegenüber, daß ihm gar nichts anderes übrigbleibt, als in ihre ungewöhnlichen Forderungen einzuwilligen.

Paris 1831: Nach neun erdrückenden Ehejahren findet Aurore zu sich selbst zurück. Im selbstgenähten Männerkostüm, mit festen, eisenbeschlagenen Stiefeln, läuft sie von einem Ende der Stadt zum anderen: »Mir war zumute, als könnte ich so die Reise um die Welt beginnen. Meine Kleidung hatte nun nichts mehr zu scheuen; ich konnte bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit ausgehen... Niemand beachtete mich oder ahnte meine Verkleidung, weil ich das Kostüm, dessen Einfachheit jeden Verdacht entfernte, mit größter Sicherheit trug.« Aurore Dudevant - noch heißt sie so - wohnt in Paris in einer Mansardenwohnung zusammen mit dem jungen Schriftsteller Jules Sandeau. Beide schreiben gemeinsam an einem Buch, das den Titel »Rose et Blanche« trägt und unter dem Namen »J. Sand« veröffentlicht wird. Einmal bekommt Aurore Besuch von ihrer Schwiegermutter, und es entspinnt sich folgender Dialog: Madame Dudevant senior: »Ist's wahr, daß Sie die Absicht haben, Bücher zu drucken?« - »Ja, Madame.« - »Ah, das ist ja eine drollige Idee!« - »Ja, Madame.« - »Nun, das ist recht gut und schön, ich hoffe aber, daß Sie den Namen, den ich trage, nicht auf die Deckel gedruckter Bücher setzen!« - »Oh, gewiß nicht, Madame, besorgen Sie nichts.«

Die »Schande«, den Namen Dudevant auf einem Buchdeckel lesen zu müssen, tut Aurore ihrer Schwiegermutter nicht an. Also beginnt sie ihre Laufbahn als Schriftstellerin unter einem selbstgewählten Pseudonym. Sie nennt sich GEORGE SAND.

Begleiten wir sie noch ein wenig bei ihren ersten Schritten in die Welt der Literatur. Was geschieht, wenn zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine junge Frau vom Schreiben leben will? Sie sucht Kontakte, erhofft sich Protektion. Das hätte ein junger Mann auch getan. Was Aurore Dudevant erlebt, wäre einem unbekannten Schriftsteller männlichen Geschlechts jedoch niemals passiert. George Sand berichtete später von zwei typischen Erlebnissen: Sie kommt zu einem gewissen Herrn de Kératry, einem bretonischen Edelmann und Romanschriftsteller, der ihr als erstes vorwirft: »Sie schreiben wie ein Mann, Madame! Ich werde offen sein, eine Frau soll nicht schreiben... Nehmen Sie meinen Rat an: machen Sie keine Bücher, setzen Sie Kinder in die Welt!« Sie antwortet darauf, laut auflachend: »Aber ich bitte Sie, mein Herr, befolgen Sie selber dieses Rezept!«

Eine ähnliche Erfahrung macht sie mit dem Schriftsteller Henri de Latouche, dem sie ein Manuskript zu lesen gibt. Er guckt sich das in aller Ruhe an, um sich anschließend zu erkundigen: »Haben Sie Kinder, Madame?« - »Leider ja! Aber ich kann sie weder zu mir nehmen, noch zu ihnen zurückkehren.« - »Und Sie gedenken, in Paris zu bleiben und sich mit Ihrer Feder den Lebensunterhalt zu verdienen?« - »Ich muß es unbedingt.« - »Das ist unangenehm, denn ich sehe darin keine Erfolgsmöglichkeiten. Glauben Sie mir: Das beste ist, Sie gehen wieder zu Ihrem Manne zurück.«

Latouche übrigens, der ihr in der eben geschilderten Szene so ablehnend gegenübertritt, wird im Laufe der Zeit einer der besten Freunde und Förderer der George Sand. Er, Herausgeber der satirischen Zeitschrift »Figaro«, läßt sie in seinem Redaktionsstab mitarbeiten. Das gibt ihr die Chance, zu lernen und gleichzeitig Geld zu verdienen.

»Die Journale sprachen mit Lob von HERRN GEORGE SAND. Sie bemerkten, es möge hier und da eine Frau die Hand im Spiele gehabt haben, um dem Verfasser seine Züge des Herzens und Geistes zu enthüllen. Aber sie erklärten, Stil und Urteil seien viel zu männlich, um nicht von einem Mann herzurühren.«

So schildert George Sand in der »Geschichte meines Lebens« die Reaktion der Presse auf ihren ersten allein verfaßten Roman »Indiana« (1832).

Es ärgert sie übrigens nicht im geringsten, daß ihr Stil und ihr Urteil als »typisch männlich« gerühmt werden. Wichtig ist ihr allein die Tatsache, daß sie mit ihrem Buch Erfolg hat, umwerfenden Erfolg. Balzac, der sie persönlich kennt, feiert sie als ein »großes Talent«, und der Schriftsteller und Kritiker Sainte-Beuve teilt ihr mit: »Man muß schon sagen, Madame, Sie sind ein wirklich seltenes und starkes Geschöpf.«

Die Frauengestalten in den ersten Romanen der George Sand erstreben die Befreiung aus den Fesseln einer bürgerlichen Ehe. Vielen ihrer Leser mag das »pikant« vorgekommen sein - ging es doch auch darum, Vergleiche zwischen den Romanfiguren und der Autorin zu ziehen. In »Lélia« (1833) stellt George Sand sich selbst dar. Auch mit diesem Buch hat sie einen erstaunlichen Erfolg, obwohl es als »unmoralisch« gilt. George, die Autorin mit dem männlichen Pseudonym, entlarvt die Unaufrichtigkeit, die oftmals in den Beziehungen zwischen Mann und Frau herrscht. Wenn sie schreibt, gelingen ihr mühelos lange Erzählungen. Sie muß sich nicht quälen. Im Verlauf einer Nacht schreibt sie bis zu dreißig Seiten herunter. Und sobald sie ein Buch beendet hat, beginnt sie, an einem neuen Roman zu arbeiten. In einem Briefwechsel, den George Sand 1866 mit dem Schriftsteller Gustave Flaubert führt, schildert sie, wie ihr die Sätze nur so aus der Feder fließen. Und Flaubert, der nächtelang nach einem einzigen Wort sucht, stimmt ihr zu: »Die Einfälle fließen bei Ihnen reichlich und unablässig dahin wie ein Strom. Bei mir ist es ein dünnes Gerinnsel. Ich muß kunstvolle Arbeiten verrichten, um einen Wasserfall zu erlangen.«

Ohne diesen Überschuß von Energie, der ihr zeit ihres Lebens bleibt, hätte George Sand ihren vielen verschiedenen Rollen gar nicht gerecht werden können. Sie ist: Schriftstellerin, und das mit Leidenschaft. Sie ist: Geliebte und Gefährtin der berühmtesten Männer Frankreichs im 19. Jahrhundert. Und: Sie ist Mutter - eine Tatsache, die sie von den meisten anderen Schriftstellerinnen unterscheidet. Im Frühjahr 1832 hat George Sand ihr zweites Kind, die dreieinhalbjährige Solange, zu sich nach Paris geholt.

Noch ist sie mit Casimir Dudevant verheiratet; erst 1836 wurde sie von ihm geschieden. Dennoch lebte sie nicht allein. Sie - dies ist ein Zitat aus dem Neuen Brockhaus - »lebte nach ihrer Scheidung in leidenschaftlichen Liebesverhältnissen mit Alfred de Musset und Frédéric Chopin«. Natürlich sind diese »Affären« (die übrigens bereits vor ihrer Scheidung begannen) aus George Sands Biographie nicht wegzudenken. Und es gibt wohl kaum ein Liebesverhältnis, über das soviel geschrieben wurde wie über das Paar Sand/Musset. Selbst in ganz sachlichen Literaturgeschichten tauchen die beiden Dichter als »Prototyp des romantischen Liebespaares« auf. Musset, 22, Dichter des Weltschmerzes, der damals auch in Paris Mode war (angeregt durch die Übersetzungen von Goethes »Werther«), lernt George Sand, 29, kennen. Gemeinsam reisen sie nach Venedig. Stürmische Auseinandersetzungen schon unterwegs. Versöhnungen. Eifersuchtsszenen. Musset erkrankt. Sand verliebt sich in den italienischen Arzt, der ihn behandelt. Musset reist allein nach Paris zurück. Sand folgt einige Wochen später - in Begleitung des Arztes. Neue Versöhnungen. Dann endgültiger Bruch.

Dies Liebesdrama gab Stoff für eine Reihe von Büchern.

Als erster schildert Alfred de Musset seine unglückliche Liebe in der »Beichte eines Kindes unserer Zeit« (1836). George Sand antwortet darauf mit dem Roman »Sie und er« (»Elle et lui«). Jetzt meldet sich auch Paul, der Bruder Alfreds, zu Wort und veröffentlicht »Er und sie« (»Lui et elle«). Und dann hat auch noch Louise Colet, Schriftstellerin und ehemalige Freundin Mussets, etwas dazu zu sagen. »Er« (»Lui«) nennt sie kurz und bündig ihren Roman.

George Sands bewegtes Leben, ihre vielfältigen Beziehungen zu den Prominenten ihrer Zeit, können in der Tat Bände füllen. Doch eines wird dabei meistens übersehen: George Sand war auch Mutter, und sie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Sobald sie als Schriftstellerin genug verdiente, nahm sie ihre kleine Tochter, später dann auch den älteren Sohn, zu sich. Da es - bis heute - nur wenige Schriftstellerinnen gibt, die Kinder haben und im Alltag mit ihnen zusammenleben, ist es interessant zu hören, wie George Sand vor rund 150 Jahren mit dieser »Doppelbelastung« fertig wurde. Sie berichtet, daß sie am Tag mit ihrer kleinen Tochter im Luxembourg-Park spazierenging und erst abends, wenn die Kleine schlief, zum Schreiben kam. Sie kennt auch das typische schlechte Gewissen aller berufstätigen Mütter: »Wenn ich mit meinen Kindern zusammen war, wünschte ich, nur für sie und mit ihnen zu leben. Und wenn meine Freunde zu mir kamen, warf ich mir vor, daß ich sie nicht oft genug sah und zuweilen in ihrer Mitte zerstreut war. Es schien mir, als ob das wahre Leben an mir vorüberginge wie ein Traum und die imaginäre Welt des Romans sich mit quälender Wirklichkeit auf meine Seele lagerte.«

Mit ihren beiden Kindern und dem Komponisten Frédéric Chopin verlebt George Sand den Winter 1838/39 auf der Insel Mallorca. Sie hat später einen ausführlichen, sehr lebendigen Bericht über diese »Familienreise« geschrieben (»Ein Winter auf Mallorca«), ein Text, der immer wieder neu aufgelegt wird. Auf die strenggläubigen Mallorquiner müssen die vier Reisenden geradezu furchterregend gewirkt haben. George und ihre Tochter trugen Hosen. Chopin, schwer lungenkrank und schon allein deswegen verdächtig, lebte vor den Augen der Kinder im »Konkubinat« mit George Sand. Und außerdem ging keiner der vier je in die Kirche. Statt dessen klettert George, die 34jährige Familienmutter, tollkühn über die Felsen, schimpft über Ungeziefer im Bett, flucht über Skorpione in der Suppe - und schildert das alles später in ihrem witzigen, farbigen Reisebericht, der heute noch ebenso reizvoll zu lesen ist wie vor 150 Jahren.

Sie hat noch viele Reisen in ihrem Leben unternommen und geschrieben: »Die Kunst zu reisen, ist fast die Wissenschaft des Lebens. Ich rühme mich dieser Wissenschaft des Reisens.«

Staubig, sonnenverbrannt, mit wirren Haaren, erforscht sie die Gegend und amüsiert sich darüber, daß man sie für einen »Seiltänzer« hält. Eine unbändige Kraft steckt in ihr. Wie sie ihre Freiheit gegenüber ihrem Mann verteidigt hat, so verteidigt sie sie auch gegenüber ihren Geliebten. Zeitgenossen, wie der Dichter Honoré de Balzac, billigen ihr zu, sie habe »alle bedeutenden Charakterzüge des Mannes«. Überhaupt wird sie häufig mit Männern verglichen. Das allerdings bedeutet nicht, daß ihre Leistungen auf literarischem Gebiet als gleichberechtigt anerkannt wurden. So hat sie zum Beispiel in die Académie Française keine Aufnahme gefunden, obwohl sie eine berühmte Romanschriftstellerin war. Diese Ehre wurde nur Männern zuteil. Und wie reagierte George Sand darauf? Sie habe Achtung vor dieser Einrichtung und erkenne das Talent der Mitglieder an, schrieb sie. Dennoch habe sie kein Bedürfnis, sich einer Institution anzuschließen, die sie als »veraltet« und »nicht zeitgemäß« ansehe. Natürlich war ihr klar, daß ihr kaum jemand solche Äußerungen abnahm. »Diese Trauben sind ihr zu sauer«, das ahnte sie, würden viele Leute sagen. Und George Sand darauf: »Keineswegs. Diese Trauben sind bereits überreif.«

(Übrigens wurde genau 102 Jahre nach George Sands Tod erstmalig eine Frau für die Académie Française nominiert: die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar.)

George Sand stirbt mit 72 Jahren und wird in Nohant beerdigt - dort, wo sie als junges Mädchen ohne Zwänge und Konventionen »bizarr« aufgewachsen ist. Zu ihrer Trauerfeier kommen bedeutende Schriftsteller Frankreichs, Gustave Flaubert, Ernest Renan und Alexandre Dumas; die (pompös formulierte) Grabrede hat Victor Hugo verfaßt. Gustave Flaubert, der in George Sands letzten Jahren viele Gedanken und Briefe mit ihr austauschte, ist einer der wenigen, der versucht, ihr wirklich gerecht zu werden. »Ich habe bei ihrem Begräbnis geweint wie ein Kind«, hat er an den russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew im Juni 1876 geschrieben. »Man mußte sie so kennen, wie ich sie gekannt habe, um zu wissen, welch ungeheuer weibliches Gefühl in diesem bedeutenden Menschen war - und welch ungeheure Zärtlichkeit sich in diesem Genius befand.«


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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