Portrait Marie Luise Kaschnitz
(1901 - 1974)
 
»Mit allen Sinnen Welt aufzunehmen.«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. *-*, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. *-*, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. *-*.

 

EIRAM ESIUL NOV GNIZLOH: aus dem eigenen Namen wird, liest man ihn rückwärts, ein Zauberspruch. Die Offizierstochter Mane Luise von Holzing, die in Potsdam und Berlin zu Anfang dieses Jahrhunderts aufwächst, hat als kleines Mädchen diese magische Formel für sich entdeckt. Sie stellt ihren Namen auf den Kopf. Und dann wird aus der braven, dicken, ängstlichen Mane Luise eine geheimnisvolle Eiram Esiul, die zaubern kann. Aber außer ihr weiß das natürlich niemand. Ihre beiden älteren Schwestern sind furchtlos, anmutig und wild. »Ihr verderbt mir das Kind!« ruft die Erzieherin ärgerlich, wenn auf den täglichen >verhaßten< Spaziergängen die zwei Großen vorauslaufen und Pläne aushecken, sich streiten und an den Haaren reißen - während die kleine Marie Luise sich lieb vom »Fräulein« an der Hand führen läßt. »Das dicke Kind« wird - Jahrzehnte später - die Autorin Marie Luise Kaschnitz eine Erzählung nennen, in der sie ihre Kindheitserinnerungen und ihr Verhältnis zu den Schwestern verarbeitet. Doch daß sie einmal das Schreiben zu ihrem Beruf machen wird, ahnt sie nicht als kleines Mädchen. Aufmerksamkeit und Bewunderung genießen in ihrer Familie die älteren Schwestern und der »Stammhalter«, der jüngere Bruder. Sie erlebt ihre Mutter als »unzärtlich«. Sie verehrt ihren Vater, der als halber Intellektueller und heimlicher Demokrat gilt. Sie wird in Samtröckchen und Matrosenkleider gesteckt, sie bekommt Klavierstunden und Sprachunterricht. Eine Köchin, ein Kindermädchen, ein Zimmermädchen und ein Offiziersbursche stehen der Familie zur Verfügung. Die Kinder werden vom Kaiser eingeladen; im Park Sanssouci spielen sie mit der Prinzessin Viktoria Luise. Marie Luise findet das langweilig. Aber sie genießt es, wenn sie in einem Pferdefahrzeug mit der Prinzessin ausfahren darf und alle Leute auf Potsdams Straßen grüßen.

Einmal sitzt Marie Luise, das »Fräulein von«, mit ihrem englischen Kindermädchen im Charlottenburger Schloßgarten. Sie haben sich auf dem Rasen niedergelassen, obwohl überall Schilder stehen, die das Betreten der Rasenflächen verbieten. Sofort taucht ein Polizist auf. Das kleine Mädchen, an Gehorsam gewöhnt, fürchtet bereits die schlimmsten Strafen, die jetzt drohen werden. Doch die Engländerin gibt dem Mann in Pickelhaube ganz kühl einen falschen Namen und eine falsche Adresse an, als er sein Notizbuch zückt. »Das englische Fräulein war in meinen Augen eine Heldin, und wie gern hätte ich wirklich in der unbekannten Straße und allein mit ihr gewohnt«, schildert die Dichterin später diese Szene. »Stolz erzählte ich zu Hause, was sie mir zu erzählen nicht verboten hatte.« Dem Kinderfräulein wurde gekündigt. Und zwar schleunigst. Ungehorsam und Unordnung duldete man schließlich nicht in einer Offiziersfamilie.

Die Welt soll in Ordnung sein - das wünscht sich die junge Marie Luise, das wird ihr so vorgelebt, und sie stellt es nicht in Frage. Sie ist dreizehn Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Sie geht mit ihrer Mutter durch den Berliner Tiergarten und sieht, daß an einem Baumstamm ein Stück Zeitung befestigt ist, ein »Extrablatt«, wie das so hieß. DER MORD VON SARAJEWO steht darauf. Daß der österreichische Thronfolger in einem offenen Wagen umgebracht wurde, erklärt die Mutter ihr. Weitere Zusammenhänge werden ihr nicht vermittelt. Sie fragt auch nicht nach. Von ihr wird gesagt, sie habe »ans Wasser gebaut«. Sie spürt, daß das nicht wohlwollend gemeint ist. Doch als Kind kann sie sich unter der Redensart nur vorstellen, daß sie in vielen kleinen Häuschen wohnt, die alle am Wasser stehen. Sie weint tatsächlich viel häufiger als ihre Geschwister - wie oft versteckt sie sich, tränenüberströmt, unter dem Kinderzimmertisch. »Ich tue mir leicht weh, und man tut mir leicht weh, die Geschwister, die Mutter, der Vater, der mich übersieht.« Das schreibt sie - sich rückerinnernd - als über Siebzigjährige.

Als sie siebzehn ist, entdeckt sie den »ersten großen Roman ihrer Jugend«. Sie liest Dostojewskis »Der Idiot«. Die Namen in dem Roman kann sie sich kaum merken. Eine fremde Welt tut sich ihr auf. »Ein Überwältigtwerden, ein Taumel und Stürzen im halben Verstehen«, so hat sie ihr erstes, entscheidendes Lese-Erlebnis später beschrieben. »Kranke« Schriftsteller - wie auch der Lyriker Georg Trakl - üben auf sie eine magische Anziehungskraft aus.

Wie sieht sie ihre Zukunftspläne? Sie will nicht studieren. Sie könnte es, wenn auch unter Schwierigkeiten. Ihre zweitälteste Schwester zum Beispiel setzt sich mit zwanzig Jahren noch einmal auf die Schulbank, um das Abitur nachzumachen, zu dem nach beharrlichen Kämpfen des »Allgemeinen Deutschen Frauenvereins« endlich auch Frauen zugelassen wurden. Marie Luise, die jüngere, war zwar auch »durstig nach Informationen«, strengte sich aber nicht über Gebühr an: »Ich interessierte mich nicht für die Frauenbewegung, deren große Vorkämpferinnen damals, im Ersten Weltkrieg, schon alt waren, ich gehörte zu denen, die ihre Leistung anerkannten, aber ihr Erbe verschenkten.«

In Weimar beginnt sie eine Lehre als Buchhändlerin. Sie wohnt dort, behütet, in einer Pension. Sie liest Bakunin und bekommt zum erstenmal den Begriff »Anarchismus« mit. Sie redet auch in ihrer Pension darüber; doch diese neuen Eindrücke und Vokabeln bleiben für sie verschwommen. »Ich habe ein starkes Gefühl, unerlöst zu sein.« Das ist ein Zitat der erwachsenen Marie Luise Kaschnitz, eine Erinnerung an die Zeit, als sie zwanzig war.

Als Buchhändlerin hat sie in Rom in einem Antiquariat gearbeitet und den österreichischen Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg kennengelernt. Sie heiratet ihn 1925. 1930 kommt eine Tochter zur Welt, Iris Costanza.

Mit ihrem Mann verbrachte Mane Luise Kaschnitz lange Reisejahre in Frankreich, Italien und Griechenland. Als sie Anfang der dreißiger Jahre einen Winter in Südfrankreich verlebten, begann sie zu schreiben: Gedichte oder Bruchstücke von Gedichten, oder Prosa. Das, was ihr einfällt, notiert sie in ein Kinderschulheft. Allerdings - nach spätestens zwei Stunden wird sie ungeduldig. »Nach dieser Zeit ist meine Kraft am Ende, da muß ich aufspringen, hinauslaufen, auf die Straße, an den Fluß. Wind, Wasser, da fülle ich mich langsam wieder auf.«

Für ein Preisausschreiben des Berliner Cassirer Verlags schickt sie 1933 ihren ersten Roman »Liebe beginnt« ein. Er wird angenommen und veröffentlicht. »Liebe beginnt« läßt sich - wie alle frühen Werke der Dichterin - durchaus in das Schema »typische Frauenliteratur« einordnen. Ihre Erzählungen, Romane und auch die meisten Gedichte, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstanden, kreisen um das Thema »Liebe«. Ihre Gedichte tragen, zum Beispiel, solche Titel: »Zeugung«, »Im Mutterleib«, »Die Mutter spricht«, »Liebe«.

Wie Marie Luise Kaschnitz die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg erlebte und wie sie sich damals verhielt, ist ein Thema, dem sie sich mit schonungsloser Offenheit später immer wieder gestellt hat. Sie und ihr Mann waren damals »dagegen«. Widerstand sahen sie so: »Eine wissenschaftliche Erkenntnis, eine gelungene Verszeile, auch eine nie gedruckte, konnten nach meiner damaligen Auffassung die Welt verbessern, verändern, das war unsere Art von Widerstand.«

Das Ehepaar Kaschnitz mied umjubelte Veranstaltungen wie die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, an deren Vorbereitungen der Vater der Dichterin mitgearbeitet hatte. Im Familienkreis kam diese Tatsache einem Skandal gleich. Größere »Heldentaten« als solche riskierte Marie Luise Kaschnitz nicht. Wer in ihren autobiographischen Aufzeichnungen liest, findet, daß sie sich selbst häufig als »feige« und »ängstlich« bezeichnet. Ihr Mut, so berichtet sie an einer Stelle, habe beispielsweise darin bestanden, einem SS-Mann, der einen Judentransport leitete, »zornige, eisige Blicke« zuzuwerfen. Doch: Was hat das zu bedeuten? Was bewirken böse Blicke? Wem nützt die innere Emigration, in die sich die Kaschnitz damals flüchtete? Ihre Zurückhaltung und Vorsicht in vielen Lebenslagen ist ihr immer wieder von kritischen Lesern vorgeworfen worden. »Du tust nie, was du könntest - nicht das Äußerste«, wurde ihr schon als Kind von einer Klavierlehrerin gesagt. »Sie sind nie wirklich gedemütigt worden«, stand in einem Brief, den sie als Erwachsene erhielt. Sie stellte sich solchen Äußerungen. Sie ging mit sich selbst ins Gericht.

»Mit dem schlechten Gewissen zur Zeit des Nationalsozialismus hat es angefangen«, schreibt sie. Diese Jahre bildeten für sie »einen Wendepunkt in meiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung«. Schreiben war für sie anfangs ein Halt gewesen, ein Sich-Festhalten an einer künstlerischen Form. Die »Überflüssigkeit der formalistischen, der bürgerlichen Kunst«, so drückt sie es aus, wurde ihr während der Kriegsjahre zum erstenmal bewußt. »Trümmerdichterin«. So hat man sie um 1950 genannt. »Totentanz und Gedichte zur Zeit« hieß ihr Lyrikband, der 1947 herauskam und ihr diesen Namen einbrachte.

Heinrich Böll, der wie Marie Luise Kaschnitz nach 1945 der »Generation der Trümmerliteratur« zugeordnet wurde, sagte später: »Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: Tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen.«

Von 1941 bis 1953 lebte das Ehepaar Kaschnitz in Frankfurt. Die Zerstörung dieser Stadt, der Wiederaufbau, Kriegsängste - einmal irrte Marie Luise Kaschnitz nach einem Bombenangriff zehn Stunden durch Frankfurt, um ihr Kind zu suchen - und die Hoffnungen der Nachkriegsjahre prägen ihre Lyrik in dieser Zeit. In dem Gedicht »Große Wanderschaft« heißt es:

Das Ding zerbricht, das Haus zerfällt,
Das heißt, daß uns kein Arm mehr hält.
Verirrte Schar, verfolgt, gehetzt -
Seit langem sind wir ausgesetzt -

Noch schreibt sie in traditionellen Formen, verwendet Reime und Strophen. Gleichzeitig beginnt sie nun, Kurzgeschichten zu veröffentlichen. »Das dicke Kind und andere Erzählungen« heißt ihr erster Erzählband, der 1951 herauskommt. Die Titelgeschichte ist eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Kindheit. »Sie nennen mich die Dicke«, sagt das Kind in der Erzählung. »Ich habe Angst«, sagt es an einer anderen Stelle. Es versucht - wie seine große, schöne, anmutige Schwester - Schlittschuh zu laufen. Aber dies »ängstliche Geschöpf« bricht im Eis ein. Die Ich-Erzählerin schaut dem plumpen, hilflosen Kind zu. Sie rührt keinen Finger, um ihm zu helfen. Denn sie hat das Gefühl, das Kind, die »fette Raupe«, wird sich selbst befreien können: »Ich brauchte ihm nicht mehr zu helfen - ich hatte es erkannt...«

Wie wichtig ihr der Text gewesen sein muß, zeigt die Tatsache, daß die Autorin zehn Jahre später diese Geschichte als einzige in eine neue Sammlung »Lange Schatten«) mit aufgenommen hat. Es ist ein langer Prozeß, bis Marie Luise Kaschnitz sich vom überkommenen Formgefühl löst und ihre eigene Sprache findet. Wie stark sie noch Mitte der fünfziger Jahre männliche Vorstellungen über die »Natur weiblicher Dichtung« weitergab, zeigt sich an einem Vortrag, den sie 1957 in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt hielt. Sie sprach über »Das Besondere der Frauendichtung« und führte aus: »Die Liebesbeteuerung und die Liebesklage scheinen der vornehmlichste Gegenstand der weiblichen Dichtung zu sein.« Typisch für Frauendichtung sei »Irrationalität und Logikferne«. Interessanterweise waren es in der sich anschließenden Diskussion Männer, die darauf hinwiesen, daß in der Lyrik des 20. Jahrhunderts der Intellekt auch in der Frauendichtung eine wichtige Rolle spiele. Die erfolgreiche Lyrikerin und Erzählerin Marie Luise Kaschnitz findet erst mit über sechzig Jahren ihre Form, ihre Sprechweise, die sie von nun an immer weiter entwickeln wird: das literarische Tagebuch. »Wer zu seinem Tagebuch findet, kommt zu sich und zur Welt«, sagt sie in einem Vortrag, den sie 1965 hält und der den bezeichnenden Titel trägt »Gedächtnis, Zuchtrute, Kunstform«. Der Tod ihres Mannes - 1958 - brachte die Dichterin in eine tiefe Krise. Jahrelang veröffentlichte sie nichts mehr. In dieser Zeit, über die sie später sagte, sie habe in einem »seltsamen Zwischenreich« gelebt, entstanden Tagebuchnotizen, die sie zu einer Icherzählung verarbeitete: »Wohin denn ich.« Das Buch beginnt mit den Sätzen:

»Eines Tages bin ich zurückgekommen, zurück woher, davon werde ich später sprechen, jetzt nur so viel sagen, daß ich fort war, lange und weit fort. Wenn Sie wissen wollen, wer hier spricht, welches Ich, so ist es das meine und auch wieder nicht, aus wem spräche immer nur das eigene Ich.« Dieses »Ich« beschreibt nun den Versuch, sich nicht länger in Erinnerungen und Traumvorstellungen zu verlieren, den Verstorbenen nicht zu vergessen und dennoch wieder am Leben teilzunehmen. Bedrohung. Ratlosigkeit. Todesangst. Ein Weg über Abgründe zurück ins Leben wird hier geschildert: »Immerhin hatte ich gelernt, die nach meiner Rückkehr aus dem Totenland neu vor mir auftauchende Welt als fragwürdig zu betrachten, hatte ihr also eine Würde gegeben, die sie für den Stumpfsinnigen, Gleichmütigen nicht besitzt.« In ihren Aufzeichnungen »Wohin denn ich« löst sich die Schriftstellerin von den klassischen Mustern der Literatur. Sie, die mit Liebesromanen und strengen Sonetten ihre schriftstellerische Arbeit begann, sagt jetzt: »Das Schöne stirbt uns unter der schreibenden Hand.« Ihre Texte werden immer dichter, immer knapper, immer härter.

»Tage, Tage, Jahre«, »Steht noch dahin« und »Orte« sind auto-biographische Texte: lyrische Notizen, deren »äußerte Konzentration« von Literaturkritikern gerühmt wird. Mehr noch: In den letzten beiden Jahrzehnten bekommt sie alle Preise, Auszeichnungen, Berufungen und Ehrungen, die hierzulande möglich sind. Je älter sie wird, desto berühmter wird sie. Unter anderem verleiht ihr die Universität Frankfurt am Main den Ehrendoktortitel. Sie wird in den Orden Pour le metite aufgenommen. Sie hält Poetik-Vorlesungen an der Frankfurter Universität. Kurz gesagt: Sie wird dekoriert, ausgezeichnet und gewürdigt wie kaum eine andere schreibende Frau.

Wie reagiert sie darauf?

In »Orte« (1973, ein Jahr vor ihrem Tod, erschienen) gibt sie Auskunft über sich als Schriftstellerin. So berichtet sie da von einem Besuch in der Strafanstalt Preungesheim, wo sie vor jungen Mädchen, die hier inhaftiert sind, liest. »Ekelhaft«, sagen zwei Siebzehnjährige am Schluß zu ihr. Sie ist betroffen. Was hat sie falsch gemacht? Sie erfährt, daß eines der Mädchen selbst dichtet. Märchen von Blumen, Bienen und Sternen. Hätte sie also den jungen Zuhörerinnen lieber heitere, lustige Geschichten vorlesen sollen? »Wer, wie ich, nur einmal kommt und geht, weiß überhaupt nichts, weniger als nichts«, notiert sie. Das ist typisch für sie: daß sie mit sich selbst ins Gericht geht, sich ständig überprüft. Durch Herkunft und Bildung ist sie ihr Leben lang gesichert gewesen. Diese Sicherung wird ihr immer fragwürdiger.

Äußerlich gesehen lebt sie bis zu ihrem Tod ein »behütetes Leben«. Sie hat ihren festen Wohnsitz in Frankfurt am Main, einen zweiten Wohnsitz in Rom und einen dritten auf dem Familiengut Bollschweil im Breisgau, das ihr Bruder verwaltet. Finanziell hat sie keine Sorgen. Beruflich ist sie anerkannt.

Sie bleibt dennoch unruhiger, wacher und neugieriger als andere Frauen und Männer ihres Alters.

Sie wird zu einer Lesereise nach Südamerika eingeladen. Eine Schiffsreise. Sie erlebt, wie es sich auswirkt, daß das Schiff in drei Klassen eingeteilt ist, daß »schon optisch die erste Klasse auf die zweite, die zweite auf die dritte herunterschaut, die Drittkläßler nicht zu den Zweitkläßlern, die Zweitkläßler nicht zu den Erstkläßlern vordringen können, während die letzteren sich überall frei bewegen können, es aber nicht tun«. Sie, die privilegierte Dichterin, gehört zu den Erstkläßlern - ihr literarischer Manager hat es so organisiert. Aber, so erlebt es Mane Luise Kaschnitz, »ich paßte nicht zu ihnen, was man mir offenbar ansah, genoß nur das Vertrauen der Verdammten, auch der Matrosen, der armen Teufel, über die sich der Trinkgeldsegen, unter Kellner und Köche aufgeteilt, nicht ergoß«.

Dieses Empfinden, bevorzugt und gleichzeitig »zwischen den Klassen« zu sein, prägt sich bei Marie Luise Kaschnitz immer stärker aus. Gerade in ihrem letzten Prosaband »Orte«.

»Sie war vorurteilslos offen, ja lernbegierig. Noch als Siebzigjährige. Und es minderte nicht, sondern bestätigte ihre eigenartige Autorität.« So beschreibt Heinrich Vormweg - er gab nach dem Tod der Schriftstellerin ein »Lesebuch« ihrer Texte heraus - die Autorin.

Sie starb im Oktober 1974 in Rom, wo sie ihre Tochter besucht hatte. Eigentlich wollte sie nach ihrer Romreise wieder nach Frankfurt zurückkehren, zur Buchmesse nämlich, und dort einen Vortrag halten, dem sie den Titel »Rettung durch die Phantasie«

gegeben hatte. »Wir haben heute keine Zeit für Diskussionen«, wollte sie in ihrer Rede sagen. »Ich fände es aber wichtig, wenn meiner Stimme, die fast so alt wie das Jahrhundert ist, jene anderen Stimmen begegneten, die die Lyriker, im Interesse des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, auffordern, endlich zu schweigen.

Ich würde mich gegen eine solche Aufforderung allerdings wehren. Ich würde versuchen, das Gedicht zu verteidigen.« Sie bekennt sich in ihrer - nie gehaltenen Rede - zum Gedicht »als diesem letzten kleinen Freiraum«. Sie glaubt, daß in der Natur des Menschen so etwas wie eine »Rettung durch Phantasie« vorgesehen sei. Sie glaubt daran, daß gerade in einer technisierten Welt Menschen ein Ohr haben werden für Stimmen, »die nicht von technischen Daten und nicht vom Soll und Haben sprechen«.

Es gibt aus dem Nachlaß der Mane Luise Kaschnitz ein Gedicht, in dem diese Zeilen stehen:

Du mein kleingeschriebenes Ich
Das immer noch fähige
Mit allen Sinnen
Welt aufzunehmen
Was für eine Welt

Von Wasserwerfern
Flüchtenden Studenten
Polizeistöcken
Unheilssirenen
Zügen die schneller und schneller
Und aus den Geleisen springen
Und Fangarmen schneller und schneller
Meine Enkel wie werdet ihr sterben?


_______________________________________________


copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

Vervielfältigung und Nachdruck, auch auszugsweise oder in abgeänderter Form, bedürfen der Genehmigung der Autorin:
www.Kohlhagen.de

Diese und andere Kurzbiographien von Schriftstellerinnen sind auch als Buch erhältlich:
www.Dichterinnen.de/Buch

Kohlhagen - Kohlhagen