Portrait Caroline von Günderrode
(1780 - 1806)
 
»O, welche schwere Verdammnis, die angeschaffnen Flügel nicht bewegen zu können!«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 10-18, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 11-18, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 9-18.

 

»Ich kann es immer noch nicht verstehen, wie Sie Ihr ernsthaftes poetisches Talent vor mir verbergen konnten. « Das schreibt im Jahr 1804 ein junger Mann, 26 Jahre alt, an eine junge Frau, 24 Jahre alt, deren ersten veröffentlichten Lyrikband er in Händen hält. Neugierig erkundigt er sich: »Überhaupt bin ich sehr begierig, von Ihnen selbst zu hören, warum Sie sich entschlossen haben, Ihre Lieder drucken zu lassen, und wie Sie die Berührung mit dem Buchhändler vermittelt haben.«

Der Mann, der das schreibt, will Dichter werden. Die Frau, an die der Brief gerichtet ist, hat dasselbe Ziel vor Augen.

Er wurde berühmt und ist heute in jeder größeren Gedichtesammlung vertreten. Sie wurde vergessen und ist heute - wenn überhaupt - nur noch wegen ihrer »tragischen Liebesgeschichte« bekannt. Sein Name: Clemens Brentano. Ihr Name: Karoline von Günderrode.

Zwei haben ein Ziel. Einer erreicht es. Eine scheitert. Was geschieht, daß es dazu kommt?

Es gibt etliche Parallelen im Lebenslauf der beiden jungen Poeten. So haben beide schon früh ein Elternteil verloren und werden außerhalb ihrer Familie erzogen. Karolines Vater stirbt, als sie sechs Jahre alt ist. Die Pension ihrer Mutter ist so bescheiden, daß sie an das Cronstettische Adlige Damenstift in Frankfurt/Main den Antrag stellt, ihre älteste Tochter dort aufzunehmen. Mit siebzehn Jahren wird das junge Mädchen »Stiftsfräulein«. Sie darf Besuche empfangen, auch ausgehen, dennoch wird sie zu einem »sittsamen Lebenswandel« angehalten. Ein Brief, den die Großmutter an die Siebzehnjährige schrieb (er wird hier im Originaltext mit all seinen Rechtschreibefehlern wiedergegeben), zeigt, wie Karolines Erziehung aussieht: »Ich zweifle gar nicht, daß du liebes Megden dein Betragen so einrichten würst, daß du uns alle Ehre magst und dir hierin die gröste. Auch immer so dein Vertrauen zeigst, sowohl der Fräulein Pröbstin wie Fräulein Gredel, was schiklich oder nicht Schiklich ist. Dises sind vernünftige Menschen. Daß Nächtliche laufen bringt Keine Ehre, weil sich alsdann hier und da Etwas einfedelt, wo durch ich nichts gewönne Nein, vielmehr meine Ehre, Wo doch ein Megden, und Jeder Vernünftige alles aufsetzen mus ins Spiel setzen. Ach Gott regiere dich mitdem heiligen Geist, werde und Sey eine recht Schaftene Christin, so würst du dich auch bestreben eine Tugendhafte Person Zusein und daß gehet über alles.«

Bei offiziellen Anlässen trägt Karoline von Günderrode die Stiftstracht, ein schwarzes Ordenskleid mit langer Schleppe, weißem Kragen und Ordenskreuz.

Clemens Brentano, der Siebzehnjährige, kleidet sich so: Mit einem papageiengrünen Rock, einer scharlachroten Weste und pfirsich blütenfarbenen Hosen - alles eigene Erfindung - schockiert er die braven Bürger der thüringischen Kleinstadt Langensalza, wo er bei einem Geschäftsfreund seines Vaters eine kaufmännische Lehre durchlaufen soll. Doch er rebelliert dagegen. Als er die Frau seines Dienstherren eine » hochbeinige, durchs Stoppelfeld spazierende Krähe« nennt, wird er schleunigst wieder zurück nach Frankfurt geschickt. In den kommenden Jahren »lebt er sich aus«. Er wechselt die Universitäten und Studienfächer, unternimmt lange Fußreisen, geht häufig ins Theater - und verliebt sich leidenschaftlich: in Sophie Mereau, Dichterin und Frau eines Universitätsprofessors.

Auch Karoline kennt solche Gefühle. »Kaum glaubte ich mich aus dem Sturme der Leidenschaft gerettet, glaubte mich sicher, sehe ich mich wieder verstrickt: Ich liebe, wünsche, glaube, hoffe wieder, und vielleicht stärker als jemals.« Das schreibt sie im Sommer 1799 an eine Freundin. Der Mann, dem ihre Zuneigung gilt, ist der Jurastudent Carl von Savigny. Als sie ihn kennenlernt, hat sie bereits - heimlich - begonnen, Gedichte zu schreiben. Er ahnt davon nichts. Sie hat auch allen Grund, es ihm zu verbergen. Denn: Zwar gibt es einzelne Frauen in jener Zeit, die sich literarisch betätigen. Aber das sind Ausnahmen. Für »tugendhafte Personen«, wie Karoline von Günderrode eine sein soll, gilt unumstößlich der Satz, den Freiherr von Knigge in seiner »Sittenlehre« (»Über den Umgang mit Menschen«) aufgestellt hat: »Ich tadle nicht, daß ein Frauenzimmer ihre Schreibart und ihre mündliche Unterredung durch einiges Studium und durch keusch gewählte Lektüre zu verfeinern suche, daß sie sich bemühe, nicht ganz ohne wissenschaftliche Kenntnisse zu sein; aber sie soll kein Handwerk aus der Literatur machen.«

Karoline von Günderrode wird diesen Grund-Satz wohl gekannt haben, hatte doch Knigges »Sittenlehre« damals auf dem Buchmarkt einen festen Platz. Im übrigen ist darin auch genau beschrieben, wie ein Frauenzimmer zu sein habe, nämlich ausgestattet mit »Feinheit, unschuldiger Verschlagenheit, Behutsamkeit, Witz, Dulden, Nachgiebigkeit und Geduld«. Diese Eigenschaften sind nicht gerade ihre Stärke. Das mag mit dazu beitragen, daß ihre Verliebtheiten immer wieder so unglücklich enden. Savigny zum Beispiel, mit dem sie einen langen Briefwechsel führt, akzeptiert Karoline als anregenden, geistreichen »Freund«. Heiraten aber möchte - und wird er auch - eine Frau, die sich für die Rolle der »Professorengattin« eignet.

»Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir.«

Das schreibt Karoline von Günderrode im Sommer 1801 an Gunda Brentano, die Schwester des Clemens, die später Savignys Ehefrau werden wird.

In ihren Versen drückt sich ihr Wunsch, die enggezogenen Grenzen zu sprengen, so aus:

»Wie die Bienen will ich schwärmen
Mich in Traubenglut berauschen
In der Lilie Weiß mich kühlen
Ruhen in der Nacht der Büsche.

In die heitre freie Bläue
In die unbegränzte Weite
Will ich wandeln, will ich wallen
Nichts soll meine Schritte fesslen.

Leichte Bande sind mir Ketten
Und die Heimat wird zum Kerker.
Darum fort und fort ins Weite
Aus dem engen dumpfen Leben.«

Gibt es irgend jemand, dem die Dichterin ihre Gedanken mitteilen, solche Zeilen vorlesen kann? Ja, sie hat Freundinnen. Eine von ihnen, Lisette von Esenbeck, hilft ihr im Jahr 1804, einen Verleger für ihren ersten Gedichtband zu finden. Eine andere, fünf Jahre jünger als die Günderrode, schwärmt sie an und sagt später über sie: »Das Reich, in dem wir zusammentrafen, senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete, um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen.« Es ist Clemens Brentanos Schwester Bettine, die hier so schwärmt. Die beiden Freundinnen lesen gemeinsam Texte, Herder, Hölderlin, Goethe, Schelling, historische und philosophische Werke. Sie unternehmen lange Spaziergänge. Am liebsten würden sie zu weiten, abenteuerlichen Reisen aufbrechen, in unbekannte Länder. Doch das ist völlig ausgeschlossen für sie als Frauen. Sie erfüllen sich ihren Wunsch auf ihre Art und Weise. »Wir machten ein Reiseprojekt«, erzählt Bettine, »wir erdachten unsre Wege und Abenteuer, wir schrieben alles auf, wir malten alles aus, unsre Einbildung war so geschäftig, dass wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reisejournal und freuten uns der allerliebsten Abenteuer, die wir drin erlebt hatten.«

Clemens Brentano indessen erlebt Reisen und Abenteuer nicht nur in der Phantasie. Er hat die Chance, sich in seiner Jugend Erfahrungen auszusetzen. In Jena, wo sich um die Jahrhundertwende eine neue literarische Bewegung bildet, ist er ständiger Gast im sogenannten »Romantiker-Haus«, und er kennt alle, die - so würden wir es heute ausdrücken - zu seiner Zeit »in« sind. Zum siebzehnten Geburtstag seiner Schwester Bettine macht er 1802 einen Abstecher nach Frankfurt. Er lernt auf der Geburtstagsfeier Karoline von Günderrode kennen. Natürlich ahnt er nicht im geringsten, daß sie ähnliche Pläne wie er im Kopf hat, daß sie Gedichte schreibt und Bücher veröffentlichen will. Schüchtern und zurückhaltend wird sie auf ihn gewirkt haben, aber nicht ohne Reiz. Immerhin wird er ihr ein Gedicht widmen: »Süßer Maie Blüthenjunge.« Vorerst aber geht er mit seinem Freund Achim von Arnim wieder einmal auf Reisen: eine Rheinreise mit Turmbesteigungen und Kahnfahrten und nächtlichen Wanderungen und unverbindlichen kleinen Liebesgeschichten. Karoline von Günderrode kann von solchen Erfahrungen nur träumen.

Clemens Brentano heiratet die - inzwischen geschiedene - Sophie Mereau 1803.

Als »privatisierender Gelehrter« wird er ins Kirchenbuch eingetragen. Fünf Monate später schließt auch Karolines große Liebe Carl von Savigny den »Bund fürs Leben«. Gunda Brentano wird seine Frau. Genau zu diesem Zeitpunkt erscheint der erste Gedichtband der Günderrode. Unter dem Pseudonym »Tian« gibt sie eine Sammlung »Gedichte und Phantasien« heraus.

»Diese Gedichte sind wirklich eine seltsame Erscheinung«, äußert sich dazu Goethe, der Große. Brentano, der Kleine, noch - nicht - Anerkannte, reagiert fassungslos und nicht ohne Neid, als er dahinterkommt, wer sich hinter dem Pseudonym »Tian« verbirgt. »Das ganze muß eine Epoche in Ihrem Leben sein, Sie können nicht gut zurücktreten. Sie haben die Welt zu Forderungen an Sie berechtigt, und Sie müssen verstummen oder beweisen, daß Sie selbst über der Welt stehen, weil Sie sich erkühnt haben, ihr das Ihrige anzuvertrauen«, schreibt er im Juni 1804 an Karoline von Günderrode. Er, der schon als Siebzehnjähriger ein Gedicht im Privatdruck veröffentlichen ließ, klagt: »Traurig werde ich oft, wenn ich einen neuen Schriftsteller auftreten sehe, denn es ist ein Beweis, daß die Menschen keine Freunde mehr haben und jeder sich an das Publikum wenden muß. « Schließlich kommt er in seinem Brief noch einmal auf seine wichtigsten Fragen zurück: Warum hat Karoline von Günderrode ihm ihr »poetisches Talent verborgen«? Und was hat sie dazu bewogen, mit ihren Gedichten an die Öffentlichkeit zu treten?

Die Günderrode antwortet ihm ruhig, gelassen und erstaunlich selbstbewußt: »Wie ich auf den Gedanken gekommen bin, meine Gedichte drucken zu lassen, wollen Sie wissen? Ich habe stets eine dunkle Neigung dazu gehabt, warum? und wozu? frage ich mich selten; ich freute mich sehr, als sich jemand fand, der es übernahm, mich bei dem Buchhändler zu vertreten; leicht und unwissend, was ich tat, habe ich so die Schranke zerbrochen, die mein innerstes Gemüt von der Welt schied; und noch hab ich es nicht bereut, denn immer neu und lebendig ist die Sehnsucht in mir, mein Leben in einer bleibenden Form auszusprechen...«

Aus ihren Sätzen geht hervor, daß sie ahnte, was von nun an auf sie zukommen würde. Sie hatte »eine Schranke zerbrochen«. Sie wollte »ihr Leben in einer bleibenden Form aussprechen«.

Warum ist es so verwerflich, wenn eine Frau diesen Schritt wagt? Deutlicher als der schon zitierte Freiherr von Knigge kann man diese Frage gar nicht beantworten: Eine Frau, »die ein Handwerk aus der Literatur macht«, stellt er klar, »sieht die wichtigsten Sorgen der Hauswirtschaft, die Erziehung ihrer Kinder und die Achtung unstudierter Mitbürger als Kleinigkeiten an, glaubt sich berechtigt, das Joch der männlichen Herrschaft abzuschütteln«.

Das Jahr 1804, in dem Karoline von Günderrode ihren ersten Gedichtband herausgab, brachte ihr eine Begegnung, die für ihr Leben bestimmend werden sollte.

Es beginnt alltäglich - harmlos. Da unternimmt eine Gruppe von jungen Leuten einen Ausflug nach Stift Neuburg bei Heidelberg. Clemens Brentano ist dabei, er singt und spielt Zither und »er getzt« damit verschiedene Bekannte und Freunde, unter ihnen Karoline von Günderrode und ein Ehepaar namens Creuzer. Der Mann, Georg Friedrich Creuzer, ist Historiker und Philologe. Die Frau, mit der er verheiratet ist, ist dreizehn Jahre älter als er und entspricht genau dem Ideal von fürsorglicher, hausfraulicher Gattin, das in Knigges »Sittenlehre« gefordert wird. Nun aber... eine Poetin habe er kennengelernt, schreibt Creuzer nach diesem Ausflug an seinen Vetter Leonhard, »ein liebes, liebes Mädchen«.

Es gibt einen mehr als 300 Seiten dicken Band mit Briefen Creuzers, alle zwischen 1804 und 1806 geschrieben, aus denen sich herauslesen läßt, in welche Verstrickung Karoline von Günderrode nun gerät. Sie erwidert die Zuneigung des verheirateten Mannes. Er ist fasziniert von ihr als WEIB. Seine FRAU jedoch möchte er deswegen nicht verlieren. Am liebsten wäre ihm ein Zusammenleben zu dritt. »Meine Frau sollte bei uns zu bleiben wünschen - als Mutter, als Führerin unseres Hauswesens. Frei und poetisch sollte Ihr Leben sein«, schreibt er an die Günderrode. »Lina schickt sich zur Ehe nicht, das fühlt sie selber«, schreibt er (an seinen Vetter) über die Günderrode. »Du Heilige!« - »Du reine, Du einfältige Magd des Herrn!« - »Du Mutter Gottes!« So nennt er Karoline in seinen Briefen - und läßt sich zu Hause ganz irdisch von seiner Frau versorgen. Denn: »Freilassen kann sie mich nicht.« Das wäre auch gar nicht in seinem Sinne, schließlich ermöglicht sie ihm ein bequemes, bürgerliches Leben. Einmal vertraut er sich einer Bekannten, der Vorsteherin eines Heidelberger Mädchenpensionats, an, schildert ihr seinen Zwiespalt. Sie äußert Zweifel, »gegen Karolines Fähigkeit, als Frau zu leben«. Denn, so teilt Creuzer seiner Geliebten in einem Brief mit, »Du erscheinst ihr in Deiner Poesie etwas zu kühn und männlich«.

Karoline von Günderrode liebt diesen Mann bedingungslos. »Den Verlust Deiner Liebe könnte ich nicht ertragen«, hat sie ihm in einem ihrer Briefe (nur sehr wenige sind erhalten geblieben) geschrieben. Sie macht den Vorschlag, er solle sich nach Moskau bewerben, sie werde ihm folgen. Sie erwägt, in Männerkleidung seine Vorlesungen zu besuchen - nur, um ihm nahe zu sein. Es gibt wohl kein Risiko, zu dem sie nicht bereit wäre. So ganz allmählich aber wird sie wieder in eine Rolle gedrängt, die sie schon einmal spielen mußte: Sie wird »der Freund«. So nennt sie sich selbst vom Frühjahr 1805 an in den Briefen, die sie Creuzer schickt. In dieser quälenden Zeit entstehen Dramen und Prosastücke, die sie unter dem Titel »Poetische Fragmente« veröffentlicht. Wenn es um ihre Arbeit geht, das darf hier nicht unerwähnt bleiben, erweist sich Creuzer der Günderrode gegenüber als teilnehmender, sachkundiger Berater - ganz im Gegensatz zu Clemens Brentano. Der nämlich ist zur Zeit damit beschäftigt, ein Volksliederbuch zusammenzustellen (»Des Knaben Wunderhorn«) und fragt bei der Dichterin an, »ob sie ihm denn gar nichts für den Band verschaffen könne«. Für die Kleinarbeit, so mag er sich gedacht haben, ist diese Frau sicher ganz brauchbar. Ansonsten fällt er immer wieder mal negative Urteile über die Texte der Dichterin.

Karoline von Günderrode, Stiftsdame und Poetin, ist für die Männer ihrer Zeit ein Rätsel. Ein Journalist, der mit »Juhus« zeichnet, spricht das offen aus. Er hat sie auf einem Maskenball in Offenbach gesehen und schreibt im »Journal des Luxus und der Moden« über sie: »Schüchtern, neugierig schlich sich die Pilgerin durch das Gedränge. Aber die Pilgerin dort gehört nicht zu den gewöhnlichen... in ihr wohnt eine höhere Ansicht des Lebens. Tian demaskiert sich; die sanften, blauen Augen sprechen ein unendlich zartes, liebendes Gemüt aus; und - MIR EIN RÄTSEL- das zarte Gemüt schafft Helden und Tyrannen mit mehr Glück als sanfte, weibliche Charaktere.«

Wann wurde der Zwiespalt, mit dem Karoline von Günderrode leben mußte, so stark für sie, daß sie an Selbstmord dachte?

Bettina Brentano wußte, daß ihre Freundin einen Dolch mit silbernem Griff besaß. Karoline vertraute ihr an, sie habe sich von einem Chirurgen Rat geholt, wie es am leichtesten sei, sich umzubringen. Bettina, zutiefst verstört, versuchte, »das alles für Scherz zu nehmen«. Vorübergehend verdrängte sie ihre Ängste um Karoline. Und Karoline - verdrängte Bettina aus ihrem Leben. Die Freundschaft der beiden Frauen reißt im Frühsommer 1806 abrupt ab. Das ist nicht ohne Zutun Creuzers geschehen. Er findet Bettina »egoistisch, kokett, faul und entfremdet von allem, was liebenswürdig heißt«. Mit Genugtuung registriert er, daß Karoline sich von Bettina trennt.

»Lina, Lina, wie lieb ich dich«, hat er (griechisch) an die Günderrode geschrieben. Sie, hoffnungslos erschöpft von dem zermürbenden Auf und Nieder in dieser Liebesbeziehung, wird sich an solche Sätze geklammert haben. Auch an die Tatsache, daß Creuzer es übernommen hat, ihr drittes Buch - »Melete« - einem Verleger zu übergeben. Ende Juni 1806 trifft sie ihn noch einmal in Frankfurt. Für den nächsten Monat ist ein Zusammensein in Winkel am Rhein geplant. Creuzer aber wird krank. Während seine Frau Sophie ihn gesundpflegt, tut er einen Schwur. Er wird das Verhältnis zu der Günderrode lösen. Das soll ihr auch sofort/unverzüglich/ auf der Stelle mitgeteilt werden.»

»Den Verlust Deiner Liebe könnte ich nicht ertragen.«

Karoline von Günderrode bekommt die Nachricht in Winkel am Rhein, wo sie sich mit einer Freundin aufhält. Es scheint so, als reagierte sie gelassen darauf. Sie nimmt Abschied von der Freundin zu einem kurzen Abendspaziergang am Rhein. Sie kehrt nicht zurück. Am nächsten Morgen wird ihre Leiche am Flußufer gefunden. Sie hat sich erdolcht.

Schonend - mit einer Schonung, die Karoline von Günderrode zeit ihres Lebens nie erfuhr - wird Creuzer Wochen später davon Meldung gemacht. »Die Selige« heißt Karoline nun in dem Briefwechsel, den Creuzer mit seinem Vetter führt. In himmlischen Bereichen hatte er sie ja schon immer angesiedelt. Auch auf irdischem Gebiet schafft er jetzt Ordnung. Er sorgt dafür, daß »Melete«, das letzte Buch der Autorin, nicht erscheint: »Unterdrückung dieser Schrift ist durchaus nötig.« Er, der als »Eusebio« in dem Band auftaucht, möchte nicht auf diese Art und Weise erkannt und der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Statt dessen hat er nur einen Wunsch, einen, den seine Frau betrifft: »Wenn ich nur meine Sophie noch recht lange behalte.« Er behält sie. Er überlebt sie. Er heiratet nach ihrem Tod ein zweites Mal, wird fast 80 Jahre alt, gibt seine Memoiren heraus und streift in einem Satz auch kurz die Zeit, die er mit Karoline von Günderrode erlebte. So: »Jene Zeit werde ich als eine Periode schwerer Seelen- und Körperleiden stets in Erinnerung behalten.«

Erst hundert Jahre nach dem Tod der Günderrode wurde »Melete«, das letzte Buch der Dichterin, veröffentlicht.

Drei Monate nach dem Selbstmord der Karoline von Günderrode starb eine Frau, die ebenfalls Dichterin war: Sophie Mereau, verheiratet mit Clemens Brentano. Sie starb nach der Geburt ihres vierten Kindes. Dazu hat sich Creuzer ausführlicher geäußert als zum Tod der Günderrode: »Es ist ein ergreifender Anblick, eine Mutter hingestreckt zu sehen vom Tode mit ihrem Säugling, auf einem Bette, festlich geschmückt wie ein Brautbett.«


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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