Portrait

Selma Lagerlöf
(1858-1940)

 
»Das größte Glück ist, an sich selbst zu glauben.«

   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
.N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 88-95, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 91-97, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 89-97.

 

Weinend geht die dreizehnjährige Schwedin Selma Lagerlöf zu ihrem Vater, der im Eßzimmer im Schaukelstuhl sitzt und Zeitung liest. Sie hat eine große Bitte an ihn, sie möchte... »Nun was möchtest du denn?« fragt er, behaglich zurückgelehnt, und versteht nicht, was das Mädchen so bewegt. Er, der mit seiner Familie auf dem Gut Märbacka in Värmland lebt, wird heute abend den Kindern etwas Besonderes bieten. Er wird sie mitnehmen zu einem »Picknickball« im Nachbarort Sunne. Selma, ihre zwei älteren Brüder und ihre ältere Schwester Anna sollen sich einmal so richtig vergnügen. »Bitte, laß mich zu Hause bleiben, ja?« hört er Selma sagen. Warum kommt sie mit solch einem absonderlichen Wunsch zu ihm? »Weil ich nicht zum Tanzen aufgefordert werde, das weißt du wohl, Vater; niemand will mit mir tanzen, weil ich ja hinke.« Er läßt sie nicht weiterreden. Er faßt sie an die Hand, bringt sie in die Küche und gibt ihr ein dickes Butterbrot mit Käse zu essen. Das wird dem Kind guttun. Selma weint weiter. Sie weint, bis endlich »ihre Tränen verstanden haben, daß sie für nichts und wieder nichts herabtropfen«. Und dann geht sie mit zum Ball. Und dann erlebt sie genau das, was sie schon vorher geahnt hat. Zu keinem Tanz wird sie aufgefordert. Den ganzen Abend lang bleibt sie Mauerblümchen. Sie versucht, sich vorzustellen, wie vielen Menschen auf der Welt es noch schlechter geht als ihr, sie denkt an die Kranken, die Armen, die Blinden. Aber das nützt wenig. Tatsache bleibt, daß es ihr im Moment ganz und gar schlecht geht. Wahrscheinlich nicht nur darum, weil sie hinkt. Sie ist - das muß sie sich selbst eingestehen - nicht anziehend und nicht liebenswürdig. Es tut weh, das zu merken.

Die Frau, die diese Jugenderinnerung in ihrem Buch »Aus meinen Kindheitstagen« schildert, wird später die erste, die den Nobelpreis für Literatur erhält. Sie bekommt Förderpreise vom König ihres Heimatlandes, ihre Texte werden in andere Sprachen übersetzt, sie gehört als eine der ganz wenigen Frauen zur »Weltliteratur«. Träumt die Dreizehnjährige von solchen Entschädigungen in der Zukunft, während sie bei ihrem ersten Ball unbeachtet in einer Ecke sitzt?

Daß sie später Schriftstellerin werden will, hat Selma sich schon im Alter von sieben Jahren vorgenommen. »Wenn ich erst so alt bin, daß ich Romane schreiben kann«, ist einer ihrer Standardsätze. Niemand in der Familie lacht sie deswegen aus. Zwar haben die Lagerlöfs keine Dichter unter ihren Vorfahren. Aber Geschichten erzählen, das können sie alle. Gespenstergeschichten, Sagen, Märchen und Erinnerungen an früher erzählt Selmas Großmutter, vom Vater hört sie Schulerlebnisse und Abenteuerliches aus anderen Ländern, die Haushälterin und das Kindermädchen berichten von Trollen, Elfen und Geistern, und Tante Ottiliana weiß alte Geschichten von den Herrenhöfen Värmlands (die Selma Lagerlöf später in ihrem Roman »Gösta Berling« verwendete). Die drei Lagerlöf-Töchter werden von einer Hauslehrerin unterrichtet, während die Jungen eine Stadtschule besuchen. Es ist eine sonnige, geborgene Kindheit, die Selma Lagerlöf erlebt. Nur die Tatsache, daß sie mit dreieinhalb Jahren Kinderlähmung hatte und seither hinkt, bereitet ihr Kummer. Mit neun Jahren verbrachte sie ein paar Monate bei Verwandten in Stockholm und besuchte ein Institut für Heilgymnastik. Damals hat sich ihr Leiden gebessert. Vielleicht sollte man die Behandlung in Stockholm fortsetzen?

Selma ist vierzehn, als sie zum zweitenmal in die schwedische Hauptstadt reist. In diesem Winter 1873 beginnt sie, Tagebuch zu führen. »Wenn ich eine Schriftstellerin werden will, muß ich für alles, was ich erlebe, froh und dankbar sein. Ich muß sogar zufrieden sein, wenn mir etwas Schweres und Widerwärtiges zustößt, sonst kann ich später gar nicht beschreiben, was man fühlt, wenn man unglücklich ist.« Das schreibt sie, ganz ernsthaft und tapfer, gleich zu Beginn ihres Tagebuchs, während sie im Zug nach Stockhom sitzt. Es rührt einen an, dies Mädchentagebuch. Da wird eine Vierzehnjährige als »Hinkebein« verspottet. Da fühlt ein junges Mädchen sich als »Landpomeranze« in der Großstadt und kämpft gegen das Heimweh an. Da bemüht sich eine Halbwüchsige vergeblich, dem Idealbild ihrer Umwelt zu entsprechen:

»Ich denke immer darüber nach, wie traurig es doch ist, daß ich nicht nur langweilig und verschlossen bin, sondern außerdem noch vergeßlich und dumm und in jeder Hinsicht mißraten.« Sie versinkt trotz vieler Niederlagen und Enttäuschungen nie in Selbstmitleid. Sie klammert sich an den Gedanken, daß sie »eine ist, die versuchen will, Romane zu schreiben«. Den Kindern ihrer Verwandten erzählt sie Märchen. Als sie sich - unglücklich - in einen Studenten verliebt, tröstet sie sich: »Allmählich halte ich es für gut, daß der Student verlobt ist. Wenn ich ihn geheiratet hätte, wäre mir sicherlich keine Zeit geblieben, Romane zu schreiben, und das ist es doch, was ich mir immer gewünscht habe.« Noch aber ist sie von diesem Ziel weit entfernt. Sie versucht sich an Gedichten. Mit fünfzehn gelingen ihr ein paar Verse. Solche:

»Wie dunkel ist es doch unter der Linde,
Wie ängstlich still wehen die Winde.«

Sie ist begeistert: »Ich bin fünfzehn Jahre alt, und ich habe alle Dichter gelesen, die wir zu Hause haben... Aber nie zuvor ist es mir eingefallen, daß ich Verse schreiben könnte. Verse machen - das ist ja etwas Hohes und Heiliges. Seine Gedanken in Reim und Metrum niederschreiben zu können - das ist eine Gabe, die nur den Auserwählten der Menschheit beschieden ist. Aber jetzt habe ich ein paar gereimte Zeilen zusammengestellt. Stell dir vor, daß du als armes Bettelkind aufgewachsen bist und ganz plötzlich die Gewißheit erlangst, ein Königskind zu sein.« Das, was Selma in Verse bringt, ist nicht sehr originell. Lyrik ist nicht ihre Stärke. Aber sie sieht das anders, und es gibt auch niemand, der sie beraten könnte. Wieder daheim in Värmland, übt sie sich im »Dichten«. Sie verfaßt Lehrgedichte, Sagenspiele, Balladen und Sonette. In aller Stille wartet sie darauf, »entdeckt« zu werden. Was eigentlich könnte geschehen, damit eine junge Frau, die sich als Dichterin fühlt, die aber völlig abgeschieden auf dem Land lebt und keine Kontakte zur Literaturszene hat, herauskommt aus ihrer Isolation? Könnte nicht, wie im Märchen (und Selma glaubt an die Wirklichkeit der Märchen), ein Prinz kommen und sie erlösen? Daß eine Frau aus der Frauenbewegung ihr die ersten Schritte in die Öffentlichkeit ermöglichen wird, hat sich Selma Lagerlöf in jenen Jahren mit Sicherheit nicht vorstellen können. Sie ist immer noch das »Landkind«, das nicht weiß, was »draußen« geschieht. In Zukunft aber werden es immer wieder Frauen sein, die sie fördern und unterstützen. Frauenfreundschaften werden ihr Leben prägen.

Eva Fryxell, eine seinerzeit bekannte schwedische Schriftstellerin, die in der Frauenbewegung aktiv tätig ist, lernt Selma Lagerlöf bei einem Hochzeitsfest in Selmas Nachbarschaft kennen. Selma, 22, tritt als Brautjungfer auf und trägt ein selbstverfaßtes Gedicht vor. Die beiden Frauen kommen ins Gespräch. »Vielleicht kann ich deine besten Gedichte in irgendeiner Zeitung unterbringen«, überlegt Eva. »Schick mir doch mal was!«

Der Versuch endet mit einer Enttäuschung. Selma Lagerlöf bekommt alle Gedichte zurück. Niemand will sie drucken. Aber Eva Fryxell läßt nicht locker. Sie hat erkannt, was der jungen Frau fehlt. Selma muß, auch wenn es ihr schwerfällt, sich »den Wind um die Nase wehen lassen«. Selbständig werden. Sich auf eigene Füße stellen. Und Selma läßt sich tatsächlich überzeugen. Sie beschließt, sich wirtschaftlich unabhängig zu machen. Daß die Großstadt Stockholm ihr Angst einflößt, weiß sie. Trotzdem meldet sie sich dort im Lehrerinnen-Seminar an. Während ihrer Ausbildung schreibt sie weiter: Sonette - und die Anfänge eines Romans. 1885 wird sie Lehrerin an der Elementarschule für Mädchen in Landskrona, einer kleinen südschwedischen Stadt. Ab und zu erscheinen Gedichte von ihr in der Frauenzeitschrift »Dagny«, die von Sophie Adlersparre herausgegeben wird. Selma Lagerlöf, die Lehrerin und heimliche Dichterin, ist 32 Jahre alt, als sie in der Frauenzeitschrift »Idun« von einem Preisausschreiben für Novellen liest. Könnte sie vielleicht...? Sie hat fünf Kapitel ihres geplanten Romans (»Gösta Berling«) fertig. Sie schickt sie ein. Das ist Ende Juli. Im November erreicht sie in Landskrona ein merkwürdiges Telegramm. »Jubelnde Glückwünsche!« steht darin. Sonst nichts. Unterschrieben haben drei ihrer Mitstudentinnen aus dem Lehrerseminar in Stockholm. Erst am nächsten Tag begreift sie, was geschehen ist. Sie entdeckt in der »Stockholmer Zeitung«, daß sie mit ihrem Manuskript den ersten Preis gewonnen hat.

Die Zeitschrift »Idun« ist bereit, den ganzen Roman zu drucken, sobald er fertig ist. Als Sophie Adlersparre das erfährt, erklärt sie sich auf der Stelle bereit, Selma Lagerlöf ein Jahr lang vom Schuldienst »loszukaufen«. Sie bringt die Mittel auf, die es der jungen Autorin ermöglichen, in aller Ruhe ihren Roman zu beenden. So entsteht ein Buch, das später als das Werk der Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf berühmt werden wird: »Gösta Berling«. Die Buchausgabe, die 1891 erscheint, bringt übrigens nicht den Erfolg, von dem Selma Lagerlöfs Freunde insgeheim überzeugt waren. Bekannte Literaturkritiker tadeln den Roman als »Sünde gegen den naturalistischen Geist«. Selma Lagerlöf wird »Monumental-Gouvernante« genannt, man wirft ihr eine »gewisse Einfalt« vor, die sie weit unter ihren berühmten Zeitgenossen August Strindberg stelle. 1892 kommt eine dänische Ausgabe von »Gösta Berling« heraus, worauf der berühmte dänische Kritiker Georg Brandes sich ganz entschieden für die Schriftstellerin einsetzt.

Selma Lagerlöfs Biograph Christian Jenssen schildert dieses wichtigste Ereignis in ihrem Leben so: »In der Zeitung >Politiken< erschien eine kleine, knapp und scharf charakterisierende, durchaus nicht vorbehaltlose Notiz über >Gösta Berling<, unterzeichnet mit G. B. Noch am gleichen Abend veranstaltete der Leseverein einen Vortragsabend für Selma Lagerlöf. Und da hatte diese die Gelegenheit, die Wunderwirkung der beiden Buchstaben G. B. zu bestaunen...«

Plötzlich ist sie »jemand«. Als 1895 in Schweden die zweite Auflage ihres Buches erscheint, kann sie ihre Lehrertätigkeit endgültig aufgeben. Der schwedische König und die Schwedische Akademie vergeben ein Reisestipendium an sie. Selma Lagerlöf, 37 Jahre alt, kann jetzt »vom Morgen bis zum Abend schreiben«. Und das nachholen, was ihr als »Landpomeranze« gefehlt hat. Sie reist. Sie lernt Italien, die Schweiz, Deutschland und Belgien kennen. Sie fährt nach Ägypten, der Türkei und Griechenland. Sie kommt auf einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. In den Legenden und Novellen, die sie schreibt, spiegeln sich die Eindrücke ihrer weiten Reise wider. Trotzdem scheint es ihr mitunter so, als entfernte sie sich im Grunde genommen nie von ihrer Heimat. Lassen wir sie über ein Erlebnis berichten, das sie auf dem Weg von Rom nach Frascati hatte: »Ich hatte alle Herrlichkeiten des Südens um mich und dachte gar nicht an mein altes Heim in Värmland, aber wie wir so tiefer und tiefer zwischen die Berge und Hügel hineinkamen, spürte ich eine seltsame Unruhe... Ich war ganz benommen. Ich fuhr ja über die Landstraße von Märbacka, ich war nur ein kleines Stückchen von meinem Heim entfernt! Im nächsten Augenblick war ich wieder ich selbst, aber ich hatte das Gefühl, daß all das andere, was ich hier unten gesehen hatte, die ganze Campagna, ganz Rom, ganz Italien für mich nicht so viel bedeutete wie das kleine Erlengehölz, das mir dieses Gefühl gebracht hatte, daheim zu sein, wieder ein sorgloses, geborgenes Kind.«

Das ausgeprägte »Heimat«-Gefühl, das so typisch ist für Selma Lagerlöf, veranlaßt sie auch, 1906 einen Auftrag der schwedischen Schulbehörde anzunehmen. Sie soll ein Erdkundebuch für Schulkinder schreiben. Nicht gerade eine sehr reizvolle Aufgabe für eine anerkannte Schriftstellerin... Selma Lagerlöf jedoch gelingt es, aus diesem spröden Thema ein Buch zu gestalten, das bis zum heutigen Tag zu den beliebtesten Kinderbüchern überhaupt gehört, ein Buch, das weit über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt wurde und 75 Jahre nach seinem Erscheinen den Stoff für eine Fernsehserie abgab: »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen.« Nils, der in einen Wichtelmann verzaubert ist, fliegt auf einem Gänserich von Südschweden nach Lappland und lernt dabei die Landschaften seiner Heimat kennen.

Nach dem Erscheinen von »Nils Holgersson« wird Selma Lagerlöf zum Ehrendoktor der Universität Uppsala ernannt. Ob sie, inzwischen fast 50 Jahre alt, sich an das kleine Mädchen erinnert, das hier als Vierzehnjährige unglücklich verliebt zwischen den ach-so-fröhlichen Studenten herumirrte und sich überall fehl am Platze fand? (In ihrem Mädchentagebuch hat sie ausführlich darüber geschrieben.)

Anerkennung, die ihr in der Jugend so gefehlt hat, wird ihr im Erwachsenenalter immer wieder zuteil. Sie bekommt 1904 die Goldene Medaille der Schwedischen Akademie. Sie erhält 1909 den Nobelpreis für Literatur. Sie wird 1914 als erste Frau Mitglied der Schwedischen Akademie. Auch deutsche Universitäten - die theologische Fakultät Kiel und die philosophische Fakultät Greifswald - ernennen sie zum »Ehrendoktor«. Es gibt auch in Frankreich und Dänemark Ehrungen für Selma Lagerlöf. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, die das Schreiben zu ihrem Beruf machten, wird sie auch von männlichen Kritikern und Biographen anerkannt. »Eine Frau wie Selma Lagerlöf überzeugt durch die mütterliche Kraft ihres Herzens«, schreibt beispielsweise ihr Biograph Christian Jenssen. »Andere Dichterinnen mögen formal, ästhetisch, ja motivisch Kunstvolleres geleistet haben - aber während bei diesen doch meistens ein Beitrag sozusagen männlichen Geistes mit am Werk ist, hat der Genius Selma Lagerlöfs eine ganz und gar weibliche Prägung.«

Mag es »weibliche Prägung« oder wie auch immer genannt werden - Selma Lagerlöf ist eine Frau, die immer sich selbst gegenüber ehrlich geblieben ist. Als sie im Alter gefragt wurde, was denn wohl das größte Glück für sie wäre, antwortete sie ohne Zögern:

»An sich selbst zu glauben.« Von dem Geld, das sie für den Nobelpreis bekam, kaufte sie das Gut Märbacka, das inzwischen verschuldet war, für sich und ihre Familie zurück. Und die Dankesrede, die sie beim Empfang dieses Preises hielt, dürfte eine der ungewöhnlichsten sein, die überhaupt je von einem Nobelpreisträger gehalten wurde.

Selma Lagerlöf dankt »in märchenhafter Form«. Sie läßt die Zuhörer miterleben, wie sie auf ihrer Fahrt von Värmland nach Stockholm an ihren Vater, der nicht mehr lebt, denkt und ihm erzählt, daß sie diesen Preis bekommen hat. Während sie sich in ihrer (so gar nicht akademischen) Rede mit dem Vater unterhält, läßt sie Bilder aus ihrer Kindheit lebendig werden. Wie sie gemeinsam die Vagantenlieder von Bellmann gesungen haben. Wie in der Lagerlöf-Familie auf dem Gut Märbacka Abend für Abend Geschichten erzählt wurden. Wie sie, Selma, später selbst geschrieben hat. Und daß sie dafür jetzt einen »Preis« bekommen soll. All das schildert sie ihrem Vater, der im Schaukelstuhl sitzt - und sich darüber wundert. Im übrigen dankt sie in ihrer so ganz und gar unförmlichen Rede allen, die ihr in ihrem Leben geholfen haben, sich weiterzuentwickeln.

Dies ist nicht die einzige unkonventionelle Rede, die Selma Lagerlöf hält. Immer, wenn sie aufgefordert wird, öffentlich zu sprechen, entwickelt sie einen eigenen Redestil. Als sie im Opernhaus von Stockholm vor dem Weltkongreß für Frauenstimmrecht auftritt, sagt sie, nein: fragt sie: »Wo gibt es den Staat, in dem alle jungen Menschen in Fröhlichkeit und mit Sanftmut erzogen werden, wie es das Recht der Kinder ist? Wo gibt es den Staat, der allen seinen armen Alten ein gesichertes und geehrtes Alter bereitet, wie es denen gebührt, die sich dem Alter des Lebens nahen? Wo den Staat, in dem der Unglückliche ebenso umsorgt wird wie der Erfolgreiche?«

In Deutschland wurden bis 1933 mehr als eine halbe Million Bücher verkauft - schon damals der »Nils Holgersson« in über 50000 Exemplaren. Verboten wurden auch im Dritten Reich ihre Bücher nie. Aber eine Zeitlang durfte ihr Name nicht öffentlich genannt werden. Und als niemand mehr über sie schrieb, verblaßte die Erinnerung an sie. Sie geriet zwar nicht ganz und gar in Vergessenheit. Aber sie wurde in ein Klischee gezwängt: »die komische Heilige aus dem Norden«. Daß sie sich nach dem Ersten Weltkrieg als überzeugte Pazifistin äußerte, weiß heute kaum jemand mehr. In dem Roman »Das heilige Leben« (1918) hat Selma Lagerlöf diese Sätze geschrieben: »Denn was wissen wir? In ein paar Jahren kann die Erinnerung an den Kummer, an die Schmerzen und die Verwüstung dieses Krieges schon vergessen sein, und wenn dann neue Menschen kommen, können sie wieder frohen und mutigen Herzens in den Kampf hinausziehen. Auf uns kommt es jetzt an, ob wir den Menschen einen Ekel vor dem Krieg einflößen und ob wir ihnen diesen so fest einprägen, daß ihn keine Reden von Ehre und Heldentaten mehr aus ihren Herzen verdrängen können.«


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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