Portrait Carson McCullers
(1917 - 1967)
 
»Schreiben ist eine wandernde, träumende Beschäftigung.«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 138-145, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 141-148, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 139-148.

 

Ein Wunderkind: Als Lula Carson Smith am 19. Februar 1917 in Columbus im Staat Georgia zur Welt kommt, ist ihre Mutter davon überzeugt, daß sie ein zukünftiges Genie geboren hat. Insgeheim hat sie bei ihrem ersten Kind zwar mit einem Jungen gerechnet, Enrico Caruso sollte er heißen und etwas Besonderes werden. Aber nun, als sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat, überträgt sie ihre Zukunftswünsche auf die Tochter: Lula Carson Smith wird berühmt werden. Das steht - zumindest für ihre Eltern - vom ersten Tag ihres Lebens an fest. Der Vater, Lamar Smith, ist Uhrmacher und Juwelier. Als Carson drei Jahre ist, bekommt sie einen Bruder, als sie sechs ist, eine Schwester. Von außen gesehen deutet nichts darauf hin, wieso ausgerechnet sie, die Erstgeborene, in dieser Durchschnittsfamilie sich zu einem Wunderkind entwikkeln sollte. Dennoch - man hat ihr diese Rolle zugeteilt. Sie bekommt ein Klavier und Musikunterricht. Da ist sie fünf Jahre alt. Das kleine Mädchen übt täglich vier Stunden an dem eigenen Instrument. Wird aus Carson ein Musikgenie werden, wie die Mutter es erträumt hat? Eine Konzertpianistin? Tatsächlich hat Carson den Kopf voll Musik. Am Klavier phantasiert sie drauflos, und außer ihren eigenen »Kompositionen« liebt sie besonders Liszts »Zweite Ungarische Rhapsodie«. Es ist schon sehr eigenwillig, wie die kleine Garson die »großen Meister« interpretiert. Aber es ist so überzeugend, daß gute Klavierlehrer bereit sind, sie zu unterrichten - und Carsons Mutter fährt das Kind geduldig zum Unterricht und holt es wieder ab. Und Garsons Vater kauft der Vierzehnjährigen eine Schreibmaschine, weil sie neuerdings nämlich dieses Instrument braucht. Carson kann nicht nur musizieren, sie kann auch dichten. Bühne frei für das Wunderkind: Garson führt mit ihren zwei Geschwistern den »geduldigen Eltern« (sie nannte sie später selbst 50> und Verwandten Theaterstücke und Lesungen vor, alles selbst geschrieben. Fromme Stücke, die meisten jedenfalls. »Jesus?« fragt einmal Carsons Tante, als sie so halbwegs dabei zugehört hat. »Oh, Religion ist immer ein hübsches Thema!«

Anschließend gibt es Kakao und Kuchen, im Sommer Orangensaft und Limonade. Garson ist ein schlaksiges, lang aufgeschossenes Mädchen, einen Kopf größer als alle Gleichaltrigen. Die schläfrige Kleinstadt, in der sie aufwächst, gibt ihr nicht viele Anregungen. Also schafft sie sich eine »innere Welt« - genau wie die jungen Mädchen, die sie später in ihren Romanen beschreiben wird. Ihr Traum ist es, irgendwann einmal nach New York zu gehen. New York, das ist eine Stadt, in der es sogar schneien soll (Schnee ist für Carson, das Mädchen aus den Südstaaten, eine exotische Vorstellung), New York hat Wolkenkratzer, Untergrundbahnen, Theater, Warenhäuser, Kinos, Bibliotheken, Konzertsäle... New York ist eine ferne Stadt, die die fünfzehnjährige Carson Smith als Hintergrund für ihren ersten Roman wählt. Sie fabuliert drauflos - beim Schreiben ebenso wie beim Klavierspielen - läßt Schaffner in der New Yorker Untergrundbahn Fahrkarten verkaufen und schmückt die Häuser dieser Stadt mit zierlichen kleinen Vorgärten. Der literarische Agent, dem sie ihr erstes Werk zur Begutachtung schickte, muß ziemlich verblüfft gewesen sein. Daß jemand so »weltfremd« über New York schrieb, hatte er wohl noch nie erlebt. »Wie alt waren Sie eigentlich, als die Untergrundbahnen noch Billets verkauften?« erkundigte er sich bei Carson Smith in seinem Begleitbrief, als er ihr Manuskript zurückschickte.

Carson sehnt sich fort. Nach ihrem Schulabschluß, da ist sie sechzehn, versucht sie sich für kurze Zeit als Lokalreporterin beim »Columbus Enquirer«, dem Heimatblatt ihres Geburtsortes. Sie ist eine schlechte Reporterin. Lieber möchte sie eine eigene Zeitschrift gründen. Oder eine Tanzschule. Oder als Konzertpianistin glänzen. Auf jeden Fall aber: diese verschlafene, heiße kleine Stadt verlassen. Sie verschlingt Romane von Dostojewskl, Tschechow und Tolstoi und liest so intensiv, daß sie einmal gar nicht merkt, wie ihr Elternhaus anfängt zu brennen. An jenem Nachmittag ist sie allein daheim. Erst als ihr Zimmer sich mit Rauch füllt, kommt sie aus ihrer Versunkenheit wieder zu sich. Carson kann alles, was um sie herum geschieht, völlig vergessen.

»Aber was sie auch tat - immer war Musik dabei. Manchmal summte sie beim Gehen vor sich hin, und manchmal lauschte sie still in sich hinein. Sie hatte alle mögliche Musik in sich. Manches hatte sie im Radio gehört, und manches steckte einfach in ihr, ohne daß sie es jemals gehört hatte.«

Das sind Sätze aus ihrem ersten veröffentlichten Roman, in dem die Zweiundzwanzigjährige über ein dreizehnjähriges Mädchen - Mick - schreibt. Mick hat viel von der jungen Carson an sich. Mick läuft unruhig durch einen heißen Sommer und sucht sich selbst. Mick lebt in einem trübseligen Städtchen in den Südstaaten und ist enttäuscht von ihrem ersten Liebeserlebnis. Musik ist für sie »der Inbegriff von Schönheit und Freiheit«.

Ähnliche Vorstellungen wird die siebzehnjährige Carson Smith gehabt haben, als sie Anfang 1935 in Savannah den Dampfer bestieg, um nach New York zu reisen. Die Eltern hatten für ihr »Wunderkind« Schmuck aus dem Familienerbe verkauft, damit Carson am Juilliard-Konservatorium in New York ihre musikalische Ausbildung vollenden konnte. Doch dazu kam es nicht, weil... Nun, Tatsache ist, daß Carson das Geld, das die Familie für sie aufgebracht hatte, auf eine rätselhafte Art und Weise schon gleich in den ersten Tagen verlor. Sie hat immer dazu geneigt, Ereignisse aus ihrem Leben ein bißchen auszuschmücken, wenn sie sie erzählte. Von ihrem New Yorker Erlebnis gibt es diese Geschichte: Das ahnungslose Kleinstadtmädchen Garson fand ein möbliertes Zimmer in einem Haus, in dem nur Prostituierte wohnten. Eine von ihnen gewann Carsons Vertrauen. Ihr gab sie all ihr Geld zur Aufbewahrung. Die Unbekannte - man ahnt es schon -verschwand auf Nimmerwiedersehen mit Carsons Schulgeld. Völlig mittellos ließ sie die Siebzehnjährige in der Untergrundbahn zurück. (Es gibt sogar eine Version der Geschichte, in der es heißt, Carson habe Wochen gebraucht, bis sie wieder ans Tageslicht gelangt sei.) Jedenfalls war der Traum vom teuren Musikstudium ausgeträumt. Statt dessen suchte Carson Smith sich Jobs als Kellnerin, Sekretärin, Klavierspielerin und als Autorin für ComicSerien. Und abends belegte sie Kurse an der Columbia-Universität von New York in »kreativem Schreiben«.

»Jedenfalls wurde die musikalische Laufbahn zugunsten der Schriftstellerei aufgegeben, und irgendwann einmal sollte irgendwo in den dumpfen und labyrinthischen Geheimnissen des New Yorker Untergrundbahn-Systems - vielleicht zwischen einem Kaugummi-Automaten und einer Waage mit Charakteranalyse - eine Bronzetafel zum Andenken an die böse Kameradin angebracht werden, die sich mit Carsons Geld für das Klavierstudium davonmachte.« So kommentiert der amerikanische Schriftsteller Tennessee Williams Carsons erstes Abenteuer in New York.

Carson Smith wird Schriftstellerin werden. Das steht von nun an endgültig für sie fest. Sie arbeitet hart. Neben den verschiedensten Halbtagsjobs konzentriert sie sich ganz aufs Schreiben. Morgens

steht sie schon gegen fünf Uhr auf, um ihr tägliches Schreibpensum zu erfüllen. Eine der Erzählungen, die in dieser Zeit entstehen, heißt »Wunderkind«. Es ist die Geschichte einer Fünfzehnjährigen, die die erste große Enttäuschung ihres Lebens erlebt. Bislang galt sie als hochbegabte Pianistin. Aber dann kommt ein Nachmittag, an dem sie in der Klavierstunde versagt. »Was für eine Umwandlung hatte vor vier Monaten in ihr begonnen?« heißt es in der Geschichte. Und weiter: »Die Töne fingen an, glatt und leblos herauszuspringen. Adoleszenz, dachte sie.«

Ein junges Mädchen, das die behütete Welt der Kindheit verlassen hat und verwirrt und ratlos an der Schwelle zum Erwachsensein steht - diese Figur wird in den Büchern der Carson McCullers immer wieder auftauchen. »Wunderkind« ist die erste Erzählung der Autorin, die veröffentlicht wird. Die Avantgarde-Zeitschrift »Story« druckt 1936 die Erzählung der gerade erst neunzehnjährigen Carson. Für die unbekannte junge Autorin ist das ein ganz erstaunlicher Erfolg. Denn in der Zeitschrift »Story« erscheinen Texte ihrer bekanntesten Zeitgenossen, die sich alle »einen Namen gemacht« haben: Truman Capote, Jerome D. Salinger, William Saroyan, Tennessee Williams. Was dem Mädchen aus Georgia schon in der Heimat prophezeit wurde, wiederholt sich nun in New York: Sie ist ein »Wunderkind«. Zu ihrer ersten gedruckten Erzählung übrigens sagt sie, sie sei »eine Erinnerung« gewesen, aber »nicht die Wirklichkeit der Erinnerung - es war eine Verkürzung jener Erinnerung«.

Zwei Eigenschaften, davon war die Schriftstellerin schon als junges Mädchen unbeirrbar überzeugt, sind für jeden Künstler wichtig: Disziplin und Leidenschaft. Als sie bei einem Urlaub zu Hause einen Unteroffizier kennenlemt und sich in ihn verliebt und dann auch noch von ihm zu hören bekommt, daß er genau wie sie als Schriftsteller arbeiten will, fühlt sie sich glücklich und bestätigt wie nie zuvor. Sie heiratet diesen Reeves McCullers 1937. Ihre Zukunft sieht sie fest umrissen. Abwechselnd werden sie und Reeves jeweils ein Jahr lang Geld verdienen, damit der andere ungestört zu Hause schreiben kann. Carson will sich »mit ihrer ganzen Seele« einem Roman widmen. Reeves wird in dieser Zeit eine Stelle als Bankbeamter annehmen. Sobald sie ihr Werk beendet hat, kann Reeves seinen dichterischen Ehrgeiz befriedigen. Disziplin und Leidenschaft werden ihr Leben bestimmen. Und sie werden glücklicher miteinander leben als die meisten Ehepaare, oder? Fotos aus dieser Zeit zeigen Carson McCullers, wie sie sich mit einem kindlich-fröhlichen Gesichtsausdruck unter ihren Ponyfransen an Reeves' Arm schmiegt. Er, so scheint es, schaut bewußt männlich-ernst in die Kamera. Hinter ihrem Kinderlachen müssen sich recht andersartige Gefühle und Gedanken verborgen haben. Denn sie arbeitet in ihren ersten Ehejahren an einem Roman, der um ein Thema kreist, das sie fortan nie mehr losläßt: enttäuschte Liebe und Einsamkeit. In ihrer - von der Dichterin selbst genehmigten - Biographie schildert Oliver Evans diese Zeit als die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Carson gibt sich ganz ihren Lieblingsbeschäftigungen hin. Ihr Roman wächst. Um sich zu entspannen, spielt sie Klavier und macht lange Spaziergänge. Abends, wenn ihr Mann nach Hause kommt, diskutiert sie den Inhalt ihres Buches mit ihm. Er hört ihr aufmerksam zu, ermutigt sie, drängt sich aber nie auf mit seinen Ratschlägen. Sie wiederum versichert ihm Stets aufs neue, bald würden sie die Rollen tauschen. Dann würde sie das Geld verdienen und er sich der Schriftstellerei widmen. Als sie einige Kapitel ihres Romans zur Begutachtung und Kritik an einen Schriftstellerfonds schickt, wird ihr spontan ein Stipendium zuerkannt. Mit diesem finanziellen Vorschuß kann sie, auch ohne Unterstützung ihres Mannes, das Buch zu Ende schreiben. Jetzt hat Reeves McCullers endlich die Möglichkeit, seine Romanideen zu Papier zu bringen. Er könnte... Aber er kann nicht. Er merkt, daß er nichts zu schreiben weiß. Soll er das zugeben? Sich selbst eingestehen? Einer Frau gestehen, die seinen Traum verwirklicht? Und das tut sie. Garson McCullers, 23 Jahre alt, ist schlagartig eine »Berühmtheit«, als im Mai 1940 ihr erster Roman unter dem Titel »Das Herz ist ein einsamer Jäger« erscheint. Nein, sie hat damit nicht gerechnet. Sie hat sich sogar auf einen »Reinfall« eingestellt. »Aber«, so schilderte sie es später, »als die ersten Exemplare draußen waren, gab es ein solch überraschendes und enthusiastisches Echo, daß sie Werbung machten, nachdruckten und mir (endiich) Geld schickten.« Mittelpunkt ihres Buches ist ein Taubstummer, zu dem sich die anderen Hauptpersonen wie magisch hingezogen fühlen. Ihm schütten sie ihr Herz aus - ihm, der sich selbst nicht verständlich machen kann und dem es »unbegreiflich ist, wie ein Mensch den Mund so oft auf- und zumachen kann, ohne müde zu werden«. Auch die dreizehnjährige, musikbesessene Mick gehört zu den Menschen, die sich ihm anvertrauen. Und sie ahnt nicht, was er währenddessen denkt: »Sie weiß, daß ich taub< bin, aber sie glaubt, ich verstehe was von Musik.«

Amerikanische Kritiker nannten Carson McCullers nach Erscheinen ihres ersten Romans »die literarische Entdeckung des Jahres«, und in der New York Herald Tribune hieß es unter anderem: »Man fragt sich, wie eine junge Person soviel über die einsamen Herzen von Männern, Frauen und auch von Kindern wissen kann.« Carson McCullers, die »junge Person«, feiert beruflich Triumphe und stürzt privat in eine tiefe Enttäuschung. In jenem Sommer ihres großen Erfolges scheitert ihre Ehe. Reeves fühlt sich als Versager. Noch immer hat er keine einzige Zeile zu Papier gebracht, während seine Frau bereits ihren zweiten Roman beendet hat und von Verlegern und Kritikern als »großes Talent« anerkannt wird. Ganz frei von Neid kann er nicht gewesen sein. Wahrscheinlich ist ihm auch jetzt erst klargeworden, wie ernst Carson es mit ihrer Überzeugung meint, Disziplin und Leidenschaft sollten ihr Leben bestimmen. Schreiben bedeutet ihr alles auf der Welt. Nichts ist wichtiger - auch er nicht.

Kurz vor der Scheidung zieht Garson McCullers in ein altes Backsteinhaus in Brooklyn, wo sie die nächsten vier Jahre bleibt. Es ist eine höchst ungewöhnliche Wohngemeinschaft, die sich hier zusammengefunden hat. Maler, Schriftsteller, Musiker und Choreographen leben im sogenannten »Februar-Haus« (die meisten waren, wie Carson, im Februar geboren; daher der Name). Jeder Mieter bezahlt einen Anteil an den Verpflegungs- und Haushaltskosten. Eine gemeinsame Köchin wird engagiert. Manchmal gibt es große gemeinsame Abendessen und ausgelassene Feste. Hauptsache aber ist, daß jeder tun und lassen kann, was er will. »Von keinem Menschen wird hier erwartet, daß er wie jedermann ist«, schreibt Carson McCullers über ihre Zeit in Brooklyn. Es ist eine spannungsgeladene Zeit für sie. Sie arbeitet wie besessen. Ihr erschreckendstes Erlebnis ist, daß sie - mit gerade erst 23 Jahren -einen Schlaganfall erleidet und sich erst mühsam nach Wochen davon erholt. Nie mehr - aber das ahnt sie jetzt noch nicht - wird sie ganz gesund werden. Sie wird zwei weitere Schlaganfälle erleiden, die schließlich zu einer schweren Lähmung führen. Sie wird gleichzeitig aber auch Glücksmomente erleben, so intensiv erleben, wie sie die meisten Menschen nicht kennenlernen. »Leidendes und doch so fröhliches Geschöpf« - so hat Carson McCullers' deutsche Übersetzerin Elisabeth Schnack die Dichterin beschrieben. Und Carsons Schwester Margarita Smith schildert sie als humorvoll, witzig und sehr betriebsam: »Als sie starb, hatte sie kurz vorher eine Party geplant.« Noch als Frau von Mitte dreißig sieht Carson McCullers auf Fotos wie ein nachdenklicher Teenager aus. »Das Mädchen« - so bezeichnen Kollegen und Kritiker sie auch noch, als sie längst eine erwachsene Frau ist. Vielleicht, weil sie diesen Blick nie verloren hat: den Blick, mit jungen, aber wissenden Augen die Welt zu sehen. »Frankie«, die Hauptperson ihres bekanntesten Buches (das es auch als Theaterstück und Film gibt) kommt der Autorin am nahesten. Frankie ist zwölf und fühlt sich überflüssig und unverstanden, denn alle haben ein >Wir<, zu dem sie gehören, alle anderen, nur sie nicht. Frankie lebt, wie die junge Carson, in einer Kleinstadt zwischen endlosen Baumwollplantagen. Es ist sengend heiß und unendlich langweilig in dem »Kaff«, das Frankies Heimat ist. Wahrscheinlich wird die Hitze nie mehr aufhören. Schnee wird für immer ein Traum bleiben. Frankie, die aussieht »wie ein Witz mit ihren schmalen Schultern und den viel zu langen Beinen«, fürchtet, daß sie eines Tages in einem Abnormitäten-Kabinett auf dem Jahrmarkt landet. Wo sonst sollte Platz für sie sein? Ohnehin kommt ihr die Welt »rissig und zersprungen« vor. Frankie klammert sich an ihren Bruder, als er heiratet und mit seiner Braut fortzieht. »Ihr seid mein >Wir<, sagte ihr Herz«, heißt es in dem Roman. Am Ende findet Frankie als »Wir« eine Freundin; aber auch das wird nur vorübergehend sein.

»Seelische Isolierung ist die Basis der meisten meiner Themen«, äußerte sich Carson McCullers über ihr Schreiben. Und: »Liebe ist die Brücke, die vom Ich-Gefühl zum Wir führt.«

Liebe (vielleicht verzweifelte Liebe?) führt sie dazu, Reeves McCullers 1945 zum zweitenmal zu heiraten. Sie leben vorübergehend in Frankreich. »Frankie«, das Buch, von dem eben die Rede war, begeistert den amerikanischen Schriftsteller Tennessee Williams so, daß er Carson McCullers' Freundschaft sucht. Er regt sie an, daraus ein Theaterstück zu machen, das am Broadway zum erfolgreichsten Stück des Jahres 1950 wird. Finanziell hat die Autorin keine Probleme mehr. Aber sie ist krank. Körperlich: Ein weiterer Schlaganfall hat sie halbseitig gelähmt. Und seelisch: Reeves, den sie liebt, aber mit dem sie nicht leben kann, begeht Selbstmord in einem Pariser Hotel.

In den letzten Jahren ihres Lebens wohnt Carson McCullers in Nyack am Hudson im Norden des Staates New York in einem altmodischen Landhaus. Sie ist Invalidin. Dennoch nimmt sie Einladungen zu Reisen an und freut sich »wie ein Kind« über ihre Erfolge. 1966, ein Jahr vor ihrem Tod, wird »Das Herz ist ein einsamer Jäger« verfilmt. 1967 reist sie im Frühjahr per Flugzeug auf der Tragbahre nach Irland. Der Filmregisseur John Huston hat sie in sein Landhaus eingeladen. Von dieser Begegnung gibt es ein letztes Foto der Carson McCullers. Sie liegt im Bett, während er ihr die Hand drückt, und sie lacht. Kurz darauf, als sie in die USA zurückgekehrt war, versank sie in Bewußtlosigkeit und starb, im September 1967, in Nyack.


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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