Portrait Sidonie-Gabrielle Colette
(1873 - 1954)
 
»Ich gehöre zu einem Land, das ich verlassen habe.«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 98-105, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 101-108, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 99-108.

 

»Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Königin der Erde ich mit zwölf war! Stark, mit einer rauhen Stimme, zwei festgeflochtenen Zöpfen, die um mich herumpfiffen wie Peitschenschnüre, mit geröteten, zerkratzten, narbenbedeckten Händen und einer eckigen, jungenhaften Stirn...«

Die französische Schriftstellerin Colette (Sie ist mit ihrem Nachnamen, der im Französischen auch als Rufname gebräuchlich ist, berühmt geworden) beschreibt sich selbst so als junges Mädchen. Sie wächst auf in dem Dorf Saint-Sauveur-en-Puisaye in Burgund. »Minet-Chéri«, wie sie von ihrer Mutter zärtlich genannt wird, ist die jüngste von vier Geschwistern. »Als ich dich zur Welt gebracht habe, dich als mein letztes Kind, Minet-Chéri, habe ich drei Tage und zwei Nächte gelitten«, hat die Mutter ihr mit einer ungewöhnlichen Offenheit erzählt. (Schließlich war es ganz und gar nicht üblich, daß Kinder im vorigen Jahrhundert wußten, wie eine Geburt vor sich ging. Kleine Französinnen wie Minet-Chéri beispielsweise erfuhren damals von ihren Eltern, daß die Babys in einem Kohlkopf wachsen.)

»Aber ich habe meine Schmerzen nie schlimm gefunden«, hat Colettes Mutter ihrer Jüngsten weiter anvertraut. »Man sagt nämlich, daß Kinder, die so hoch liegen wie du und die nur langsam ans Licht kommen, immer besonders geliebte Kinder sind, weil sie ganz dicht am Herzen der Mutter gewohnt haben und nur ungern von dort weg wollten.«

Ob Aberglaube oder nicht - tatsächlich hat die Frau, die später als »Colette« weltbekannt wurde, einen sehr intensiven Kontakt zu ihrer Mutter und zu ihrer Heimatlandschaft gehabt. Zu den Büchern, die ihren Erfolg als Schriftstellerin begründen, gehören die »Claudine«-Romane (in denen sie ihre Kindheit und Jugend auf dem Land wieder lebendig werden läßt> und »Sido« (beschreibt das Leben ihrer Mutter).

Minet-Chéri ist, wie ihre drei Geschwister, ein eigenwilliges Kind. Juliette, ihre ältere Schwester, vergräbt sich stundenlang mit einem Stapel von Büchern in ihrem Zimmer. Achille, der große Bruder, bastelt geheimnisvolle Geräte, mit denen er später als Arzt Kranke heilen will. Leo, der zweitjüngste, spielt die schwierigsten Konzertmelodien fehlerfrei auf dem Klavier, ohne je Unterricht gehabt zu haben. Und Minet-Chéri läßt sich als kleines Mädchen jeden Morgen um halb vier von ihrer Mutter wecken. Dann läuft sie raus in die Natur, »wo alles noch blau und feucht und undeutlich schläft«. Ehe die Sonne aufgegangen ist, riecht sie den kommenden Tag. Sie durchstreift die Wälder in der Umgebung, pflückt Beeren und trinkt Wasser an zwei Quellen, die sie kennt: »Die eine schmeckt nach Eichenblättern, die andere nach Eisenkraut und Hyazinthe.« Pünktlich, wenn es zur ersten Messe läutet, kehrt die Kleine nach Hause zurück. Mutter »Sido« läßt ihre vier Sprößlinge gewähren. Von »Erziehung« hält sie nichts. Der Vater, Steuereinnehmer im Dorf, ein stiller, zurückhaltender Mann, träumt, schreibt und liest viel. Später hat Colette in ihrem ersten »Claudine«-Roman einen Vater beschrieben, der seine Tochter am Tag ihres Schulexamens zerstreut fragt: »Wo steckst du denn die ganze Zeit, ich sehe dich überhaupt nicht mehr!« - »Aber Papa, ich hab' meine Prüfung gemacht!« »Was für eine Prüfung?« fragt er weiter, während er sich schon wieder seinen Büchern zuwendet.

Bücher: Auch für die junge Colette spielen sie eine wichtige Rolle. Nein, sie ist keine »Leseratte« wie ihre Schwester Juliette. Aber sie hat zu Büchern ein sehr eigenes, für sie typisches Verhältnis. Sie mag »ihre Gegenwart, ihren Geruch, die Buchstaben, in denen ihr Titel gedruckt ist, die Art, wie sich ein Einband in Leder anfühlt«. Mitunter sind Bücher für sie geradezu etwas Magisches. Sie bastelt ein Wort aus den Buchstaben, die auf dem Rücken einer Enzyklopädie-Reihe stehen: Aphbicladiggalhymaroidpooreebstevanzy. »Das hat sich mir unauslöschlich eingeprägt«, erinnert sie sich als Erwachsene. Der Gedanke, daß sie selbst je aus dem Schreiben einen Beruf machen könnte, ist ihr als junges Mädchen fern. »Ich werde Seemann«, hat sie ihren kleinen Freundinnen erklärt und sich dabei insgeheim gewünscht, ein Junge zu sein, der Hosen und eine kesse blaue Mütze tragen kann.

Im übrigen interessiert sie sich leidenschaftlich für Tiere, und das wird ihr Leben lang so bleiben. Als Kind heißt ihre Lieblingskatze Babou. Als Erwachsene schmust sie mit Ba-Tou, der Tigerkatze, läßt Piti-Riqui, ein Eichhörnchen, in ihrer Wohnung herumklettern und schreibt sogar einen fast 200 Seiten langen »Tierdialog«, in dem sich Kiki-La-Doucette (die Katze) und Toby-Chien (der Hund) unterhalten.

Sie schreibt? Wie kommt sie dazu? Sich die ungebärdige Minet-Chéri mit ihrem Hunger nach Leben und Erleben (»meine Nase war empfindlicher als alle meine anderen Sinnesorgane«) vergeistigt-vertieft an einem Schreibtisch vorzustellen, fällt schwer. Tatsächlich ist sie auch nicht mehr das unbekümmerte Landkind, als ihre ersten schriftstellerischen Werke entstehen. Sie ist zu jenem Zeitpunkt eine ängstliche, blasse, unterwürfige Frau von Anfang zwanzig, die in einer düsteren Pariser Wohnung lebt. Sie ist verheiratet mit einem »bereits alternden Mann mit blauen Augen, einem unergründlichen Blick und einem schrecklichen Hang zur Rührseligkeit«. Sie nennt diesen Mann, ihren Ehemann, »Monsieur Willy« und läßt sich von ihm siezen, während sie ihn duzt. Es gibt aus dieser Zeit eine Fotografie von ihr, da sitzt sie, eng in sich zusammengekauert, neben dem Hund Toby-Chien. Und darunter steht in ihrer Handschrift: »Colette und Toby-Chien, zwei brave Typen, denen man beigebracht hat, wie man Männchen macht und Pfötchen gibt.«

Wer hat das Mädchen, das sich mit zwölf »Königin der Erde« nannte, so zahm gemacht?

Der Mann, den sie heiratete, war Sohn eines bekannten Pariser Verlegers. Henry Gauthier-Villars (»Willy« genannt und als »Willy« bekannt) spielte als Kritiker und Schriftsteller eine große Rolle in der Pariser Szene, Ende des vorigen Jahrhunderts. Als er Colette in ihrem Heimatdorf kennenlernte, war sie gerade achtzehn, er Mitte dreißig. Der Hauch von »großer Welt«, den er mit sich brachte, muß sie fasziniert haben. Und mindestens ebenso die Neugier, endlich einmal die »richtige Liebe« kennenzulernen. Bei aller Freizügigkeit, die Colettes Eltern zeigten - ohne Eheschließung ging DAS nicht. Mit zwanzig heiratet Sidos Jüngste und zieht nach Paris. Wie wird sie später sagen?

»Ich gehöre zu einem Land, das ich verlassen habe.« Sie betritt Neu-Land. Wie wird sie sich dort fühlen?

Eines hat sich die zwanzigjährige Colette fest vorgenommen: Sollte es ihr je schlechtgehen in Paris, dann darf ihre Mutter davon nichts erfahren. Vom ersten Tag an macht die Großstadt ihr Angst. Sie verkriecht sich, das hat sie schon als Kind so gemacht. Sie wird krank, bekommt hohes Fieber, magert ab. Wenn »Monsieur Willy« seine »Landpomeranze« ausführt, zerbrechen seine Freunde sich den Kopf über dieses seltsame Geschöpf. Ist die junge Frau mit den langen Zöpfen naiv? Oder spielt sie das nur? Ahnt sie, daß ihr Mann sie ständig betrügt? Läßt sie ihn großmütig gewähren? Oder - spielt sie womöglich das gleiche Spiel wie er?

Colette gerät in eine tiefe Krise: »Es gibt im Leben aller jungen Menschen einen Augenblick, wo Sterben ihnen genauso normal und verführerisch vorkommt wie Leben«, sagte sie im Rückblick auf diese Zeit und fügte hinzu: »Auch ich habe gezögert.«

Während sie noch immer in Briefen an ihre Mutter von ihrem ach-so-abenteuerlichen Leben in Paris schwärmt, kommt sie allmählich dahinter, wer dieser »Willy« ist, den sie geheiratet hat. Er gilt als erfolgreicher Musikkritiker und Schriftsteller. Allerdings hat er nicht einen einzigen Roman selbst geschrieben. Diese mühselige Arbeit besorgt für ihn eine Schar von anonymen Mitarbeitern. Er läßt sie für sich »dichten«, gibt das Werk als sein eigenes an seinen Verleger-Vater weiter und bezahlt dann seinen dankbaren kleinen Schreiberlingen ein Honorar. Das ganze System nennt er »literarische Werkstatt«. Im übrigen unterhält er noch einen »geselligen Zirkel« - seine Mätressen nämlich, die er ungeniert sogar zu Hause empfängt. Mag Colette zusehen, wie sie damit fertig wird...

Zunächst stellt sie sich einfach taub und blind. Sie läßt sich demütigen - und dressieren. Auf Befehl ihres Mannes hin schneidet sie ihre langen Haare ab, kleidet sich, wie er es wünscht und - schreibt für seine »Werkstatt«, weil er es erwartet. »Irgendwelche pikanten Erinnerungen an deine Schulzeit«, hat er gemeint, »werden dir wohl einfallen... Vielleicht kann ich was daraus machen.«Sie, erschöpft von ihrer langen Krankheit, kauft ein paar Schulhefte und füllt Seite um Seite. Sie läßt ein fünfzehnjähriges Schulmädchen, das sie Claudine nennt, in Ich-Form erzählen. Claudine wohnt in »Montigny«, und das ist unverkennbar Colettes Heimatdorf mit seinen Wäldern, Quellen und Flüssen. Sie hat angefangen, ihren Text wie einen lästigen Schulaufsatz zu schreiben. Aber dann wird ihre Erinnerung an ein Land, »zu dem sie gehört und das sie verlassen hat«, immer stärker: »Ich bin beim Schreiben sechs Jahre jünger geworden.« Den Gehorsam ihrem Ehemann gegenüber hat sie allerdings dabei nicht abgelegt. Weil er »Pikantes« erwartete, läßt sie zwei lesbische Lehrerinnen auftreten, die Claudine mit neugierigen, kritischen und eifersüchtigen Blicken beobachtet.

Wie eine brave Schülerin, die dem Lieblingslehrer eine Freude machen will, liefert sie »Monsieur Willy« ihr Produkt ab. Er überfliegt den Text und ist enttäuscht: »Ich habe mich geirrt, damit läßt sich nichts anfangen.« Sie ist erleichtert, verkriecht sich wieder auf ihre Couch, schmust mit ihrer Katze und läßt, wie sie es sich neuerdings angewöhnt hat, die Außenwelt nicht an sich heran.

Monate vergehen. »Monsieur Willy« räumt eines Tages seinen Schreibtisch auf und entdeckt dabei die Schulhefte mit Claudines Geschichte. Er glaubte, er hätte sie in den Papierkorb geworfen. Jetzt aber... »Das ist ja originell!« stellt er beim Blättern überrascht fest. »Mein Gott, was bin ich doch für ein...«

»Er rannte zu einem Verleger - na ja, und so bin ich Schriftstellerin geworden«, kommentiert Colette den weiteren Gang der Ereignisse. 1900 - Colette ist 27 Jahre alt - liegt ihr erstes Buch (»Claudine à l'école«) als der Bestseller des Jahres in allen Pariser Buchläden, und als Verfasser ist angegeben: »Willy«. Colette schweigt dazu. Sie ist nach wie vor ängstlich und unterwürfig in Gegenwart ihres Herrn und Gebieters. Auf sein Geheiß hin muß sie fortan vier Stunden täglich am Schreibtisch sitzen (er schließt sie ein!) und neue Claudine-Texte produzieren. Überdies hat »Willy« ihr eine Art Fitnessraum eingerichtet - mit Ringen, Trapez und Barren, an denen sie sich vom Schreiben erholen soll. Da steht sie auf einem Foto mit enggeschnürtem Rock und hochgeschlossener Bluse an den Barren gelehnt und guckt ebenso kläglich wie der kleine Toby-Chien neben ihr. Zwischen 1900 und 1903 erscheinen vier »Claudine«-Bände. »Ein neuer, origineller Mädchen- und Frauentyp«, urteilen namhafte Kritiker, »erfrischend, urwüchsig und wunderbar lebenssprühend.« Begeistert wird von der Werbung dieses Ursprünglich-Originelle aufgegriffen. Zigaretten (»die wilde Frische der Natur«), Parfums (»taufrisch wie der junge Morgen«), Gesichtswasser (»quellfrisch«) tragen den Markennamen »Claudine«. Im Théâtre Bouffe-Parisiens in Paris werden »Claudine«Theaterstücke aufgeführt. »Willy« läßt sich als Autor feiern. Scherzhaft nennt er sich »Claudines Papa«, und schließlich denkt er sich noch einen besonderen Reklametrick aus. Colette und die junge Frau, die im Theater die »Claudine« spielt, treten unter seiner Obhut im »Claudine-Look« auf: brave Schulmädchen mit weißen Kragen und Schlapphüten: seine Geschöpfe. Alle Welt ist davon überzeugt, daß die beiden jungen Frauen ein Verhältnis miteinander haben, das »Papa« wohlwollend duldet...

»Ich habe es satt. Ich will... ich will machen, was ich will... Meinetwegen nackt tanzen... Ich will traurige und keusche Bücher schreiben, in denen es nur Landschaften gibt, Blumen, Kummer, Stolz und die Unbefangenheit der Tiere...«

Es dauert noch einige Jahre, bis Colette diesen Wunsch zu formulieren wagt. Sie läßt sich 1906 scheiden. Dreizehn Jahre lang hat sie es ertragen, nur als »Willys Produkt« zu leben. Was hatte Mutter Sido ihr prophezeit? »Das schlimmste, was einer Frau passieren kann, ist ihr erster Mann.« Für Sidos Jüngste traf diese düstere Voraussage voll und ganz zu. Sie hat sich sogar so sehr an diesen Mann verkauft, daß bis zum heutigen Tag ihre ersten Romane in Frankreich unter dem Namen Willy et Colette erscheinen!

»Man stirbt nur am ersten Mann«, sagte Colette dreißig Jahre nach ihrer Trennung von »Willy«. Was blieb ihr, als sie diesen Mann verließ? Einen Beruf hatte sie nicht erlernt, Reichtümer nicht sammeln können und: Sie war jetzt über dreißig.

Ob sie damals daran geglaubt hat, sie könne sich je als Schriftstellerin einen eigenen Namen machen? Die Disziplin, täglich vier Stunden zu schreiben, hat sie beibehalten. Und nebenbei Geld in music-halls verdient. Pantomimen waren große Mode. Colette als Faun und Colette als Kätzchen, Colette halb entblößt auf der Bühne, Colette in leidenschaftlicher Umarmung mit anderen Frauen, Colette die Skandalöse - so ist sie vor dem Ersten Weltkrieg bekannt geworden. Eine Vagabundin. Eine Frau, die sich nach ihren bitteren Ehejahren nie wieder »anketten lassen« wollte. Trotzdem heiratet sie - 1912 - noch einmal: den Journalisten Henry de Jouvenel. Sie bekommt eine Tochter, von ihr »Bel-Gazou« gerufen. Es scheint so, als wolle sie ihr Glück erzwingen, und zwar Glück auf allen Gebieten. Sie schreibt Romane, tritt in Varietés auf, arbeitet als Journalistin, verfaßt Tiergeschichten, und Mutter Sido warnt vergeblich: »Kind, verschleudere nicht dein Talent!« Denn sie ist mittlerweile davon überzeugt, daß ihre »Minet-Chéri« eine außergewöhnliche Schriftstellerin ist. Immerhin ist eines ihrer ersten Bücher, das sie unter ihrem Namen schrieb (»La Vagabonde«), von französischen Literaten für den Prix Goncourt vorgeschlagen worden.

Colette aber hat den Rat ihrer Mutter nie befolgt. Während sie unermüdlich schrieb (insgesamt mehr als vierzig Romane), gab sie ihre Beschäftigung als Reporterin nicht auf, nahm weiterhin Angebote für Theater-Tourneen an, heimste berufliche Erfolge ein - und erlebte privat, daß auch ihre zweite Ehe scheiterte.

»Kannst du nicht einmal ein Buch schreiben, das nicht von Liebe handelt?« fragt sie ihr zweiter Ehemann Henri de Jouvenel. Nein, das wird Colette nie können. Chéri. Mitsou. Gigi. Selbst wer wenig über Colette weiß, kennt die Namen ihrer Romanfiguren, und immer ist ein Hauch von »Verruchtheit« dabei. Ein blutjunger Mann wird von seiner alternden Geliebten ausgehalten. Eine verheiratete Frau hat ein Verhältnis mit der Geliebten ihres Mannes. Zwei Fünfzehnjährige machen während ihrer Schulferien in der Bretagne erste sexuelle Erfahrungen. Solche Themen haben der Colette den Ruf eingebracht, ein enfant terrible zu sein. In ihrem Heimatland Frankreich allerdings ist sie als eine Frau, die unverwechselbar schreibt, die ihren eigenen Stil gefunden hat, die die Welt wie ein Kind mit neuen Augen betrachtet, als Schriftstellerin geehrt und anerkannt worden. Auszüge aus ihren Büchern gehören zur Pflichtlektüre französischer Schulkinder. »Sido« (1929 geschrieben) gilt als ihr Meisterwerk. Die französischen Dichter Francis Jammes und Marcel Proust waren fasziniert von ihren Texten. Sie wurde Grand Officier der französischen Ehrenlegion - zusammen mit Marcel Proust.

Hat der Ruhm sie verändert? Vielleicht hat sie ihn genossen. (Sie hat alles genossen, was das Leben ihr gab.) Aber sie hat Ruhm nicht unbedingt gebraucht. Im Kern ist sie »Naturkind« geblieben, die Tochter ihrer Mutter Sido.

Von Sido gibt es diese Geschichte: Colettes zweiter Ehemann lädt sie ein, nach Paris zu kommen. Im Grunde wünscht sie sich nichts mehr, als endlich einmal ihre Lieblingstochter wiederzusehen. Aber - gerade jetzt beginnt eine sehr seltene Pflanze in ihrem Garten zu blühen. »In unserem Klima blüht sie nur alle vier Jahre«, schreibt Sido. »Und ich bin schon eine sehr alte Frau, also werde ich sie wahrscheinlich nie wieder blühen sehen. Darum kann ich jetzt nicht reisen.« Colette hat den Brief in einem ihrer Bücher (»La Naissance du Jour«, 1928) veröffentlicht und hinzugefügt: »Ich bin die Tochter der Frau, die diesen Brief schrieb!«

Und von Colette gibt es diese Geschichte: Germaine Beaumont, ein junges Mädchen, verehrt die Schriftstellerin. Sie wohnt in Paris in ihrer Nachbarschaft und bekommt eines Tages den Auftrag, Colette einen Brief persönlich zu überreichen. Herzklopfend betritt sie das Haus. Endlich wird sie ihrem Idol persönlich begegnen. Germaine erzählt, daß die berühmte Colette sie eindringlich anblickte und dann sagte: »Wie gut, daß du kommst. Hilfst du mir, grüne Bohnen schälen? Ich bin gerade beim Einmachen.« Und dann sitzen sie beide am Tisch, schnippeln Bohnen, und Germaine bleibt dieser Eindruck als Erinnerung: »Vorher hatte ich die Welt durch ein Opernglas gesehen, das falsch eingestellt war, und auf einmal sah ich alles klar.«

Die junge Germaine wird übrigens später Colettes Freundin und Sekretärin. Sie reist mit ihr in die Bretagne und schildert die Schriftstellerin als eine Frau, die - im tiefsten Sinne des Wortes - es liebte zu leben. »Nie gab es auf der Welt Augen, die besser zu schauen verstanden. Das schrieb ihr dritter Ehemann, Maurice Goudeket, über sie. Sie heirateten 1935, und er wurde das für sie, was sie nach zwei gescheiterten Ehen nicht mehr erwartet hatte: ein Mann, mit dem sie zusammen leben konnte. Einer, der viel jünger war als sie, einer, der sie liebte und der darum nicht das Bedürfnis hatte, sie in irgendeiner Form einzuengen. Als Colette, 81 Jahre alt, starb, war er bei ihr. Sie war die erste Frau, die in Frankreich ein Staatsbegräbnis erhielt. Hätte sie sich je eine solche Ehrung vorstellen können?

»Der Tod«, hat Colette geschrieben, »interessiert mich nicht, auch mein eigener nicht.«


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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