Portrait Charlotte Brontë (1816 - 1855)
Emily Brontë (1818 - 1848)
Anne Brontë (1820 - 1849)
 
»Beim Schreiben kann man nicht immer daran denken, was >elegant< und >charmant< und >weiblich< ist.«
   
Zitiermöglichkeiten für den nachfolgenden Text:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Allitera Verlag 2001, S. 58-66, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Sammlung Luchterhand 1993, S. 61-68, oder:
N. Kohlhagen, "Sie schreiben wie ein Mann, Madame!", Fischer Taschenbuch Frankfurt/M. 1983, S. 59-68.

 

»Anne und ich fragen uns, wie und was und wo wir, wenn alles gutgeht, im Jahr 1874 sein werden - in dem Jahr werde ich in meinem 57. Lebensjahr sein und Anne wird ihr 55. erreichen...«

Zwei junge Mädchen, 14 und 16 Jahre alt, träumen von der Zukunft und notieren ihre Gedanken in tagebuchähnlichen Briefen. Man schreibt das Jahr 1834, es ist ein trüber Novembertag, nichts Besonderes geschieht. Aber die beiden haben sich angewöhnt, in regelmäßigen Zeitabständen Tagebuch zu führen. An diesem Novembertag ist Emily, die Sechzehnjährige, an der Reihe, und sie erzählt, daß sie und die vierzehnjährige Anne gerade Äpfel geschält haben für ihre ältere Schwester Charlotte, die einen Apfelpudding kochen will. Sie sitzen in der Küche. Es ist schon Mittag. Aber beide Mädchen haben sich noch nicht angezogen und ihre Betten noch nicht gemacht, geschweige denn sich um ihre Musikübungen gekümmert, wie sie eigentlich sollten. Tabby, die Hausangestellte, schimpft, weil sie so trödeln. Emily soll wenigstens Kartoffeln schälen. »O dear, o dear, o dear, mach ich ja gleich!« antwortet Emily. Der Vater verläßt das Haus, um vorm Essen noch einen kleinen Spaziergang zu machen.

Wie gesagt: nichts Besonderes geschieht. Mädchen schildern ihren Alltag in einem einsamen englischen Pfarrhaus. Das ist 150 Jahre her und würde heute niemand mehr interessieren, wären nicht diese Pfarrerstöchter - Charlotte, Emily und Anne Brontë - als Schriftstellerinnen weltberühmt geworden.

»Was wohl sein wird, wenn wir vierzig Jahre älter sind?« haben sich Emily und Anne in ihren ersten Tagebucheintragungen gefragt. Sie werden das nie erleben. Alle drei Brontë-Schwestern sind jung gestorben. Lebendig blieb das, was sie schrieben.

Gedanken, Träume und Wünsche zu Papier bringen - das ist für die Brontës schon als Kinder eine »ganz normale Beschäftigung«. Ihr Vater, Pfarrer Patrick Brontë, hat selbst literarischen Ehrgeiz, wenn auch ohne Erfolg. Die Mutter ist ein Jahr nach der Geburt der jüngsten Tochter gestorben. Sie wird als »zuverlässig, taktvoll und hingebend« geschildert, außerdem als »fleißige Briefschreiberin«. Das deutet darauf hin, daß auch sie es nicht ungewöhnlich fand, mit Feder und Papier umzugehen. Nach ihrem Tod war Pfarrer Patrick Brontë alleinverantwortlich für die Kinder. Außer den drei schon erwähnten Mädchen hatte er noch zwei ältere Töchter und einen Sohn, Patrick Branwell, zu erziehen. Aber er erzog keins seiner Kinder. Er ließ sie sich entwickeln. Sie durften lesen, was sie wollten, und er besaß viele Bücher, oder er lieh sie sich aus. Er schickte die Kinder in Internatsschulen, und er ließ sie wieder nach Hause zurückkommen, die beiden älteren Mädchen starben an Tuberkulose. Er war »zu nachsichtig«, so heißt es in manchen Biographien, die sein Verhältnis zu den Kindern schildern. Vielleicht war er auch nur zu sehr mit sich beschäftigt nach dem Tod seiner Frau, der ihn sehr getroffen hat. Die drei Mädchen hatten wenig Kontakt nach außen. Sie redeten nicht viel. Sie durften nicht so angezogen gehen, wie es damals Mode war - mit weit abstehenden, gerüschten und verschnörkelten Kleidern. Ihr Vater wurde ständig von der Vorstellung gequält, solche Kleider könnten Feuer fangen. Den Mädchen muß es nichts ausgemacht haben, daß sie nicht so modisch-elegant und charmant waren wie andere Gleichaltrige. Was für sie zählte, war, daß sie sich in ihrer eigenen Welt wohl fühlten.

Wahrhaftig eine sehr eigene Welt - und angefangen hat alles damit, daß ihr Bruder Branwell eine Schachtel mit Holzsoldaten geschenkt bekam.

Branwell und seine Schwestern machen aus diesen Figuren Helden, die Abenteuer erleben. Sie erfinden Königreiche: Charlotte und Branwell nennen ihres »Angria«, Emily und Anne wohnen in »Gondal«. Alle vier schreiben darüber. Geschichten, Gedichte und Zeitungsberichte entstehen. Für die Brontës ist das keine vorübergehende Phase in ihrer Kindheit. Sie bleiben, als sie längst schon erwachsen sind, in ihren Traumländern und berichten weiterhin darüber. Unterbrochen werden die Texte immer nur vorübergehend, wenn eins der Kinder außer Haus weilt. Die Mädchen werden, eine nach der anderen, zu Lehrerinnen ausgebildet. Charlotte und Emily werden sogar im Ausland unterrichtet, in Brüssel. Dennoch bleibt ihr Zauberland bestehen. Von Charlotte beispielsweise gibt es über zwanzig Novellen, die sie im Alter von 16 bis 24 Jahren schrieb und die alle in »Angria« spielen. Noch etwas haben die vier Brontës gemeinsam: die leidenschaftliche Liebe zu ihrer Heimat. Es ist eine karge, einsame Gegend, in der ihr Vater seine Pfarrei hat, Heide und Hochmoore bestimmen die Landschaft. Sie durchstreifen die Gegend, und niemand hindert sie daran, stundenlang draußen unterwegs zu sein. Genauso, wie sie niemand je in ihrem phantasievollen Schreiben unterbricht. Als Charlotte zwanzig ist und ihr Bruder Branwell neunzehn, wird bei beiden das Bedürfnis immer stärker, irgendein Echo von außen zu bekommen. Sie selbst lesen sich gegenseitig ihre Texte vor und finden gut, was sie schreiben. Doch - was wird ein ><richtiger Dichter« dazu sagen? Charlotte entschließt sich, an den berühmten Poeten Southey einige Kostproben zu schicken, Branwell wählt den Dichter Wordsworth. Der Antwortbrief, den Charlotte nach langem Warten entgegennahm, ist erhalten geblieben. Was wird ihr mitgeteilt? Daß sie sich nicht in Tagträumereien verlieren solle. Daß viele »dichten«, so wie sie. Und daß Literatur kein Beruf für Frauen sei. Besser für sie wäre es schon, sie besänne sich auf ihre wahren Aufgaben als Frau. Nebenbei würde ihr dann sicher noch dieser und jener Vers gelingen. Das alles freundlich und wohlgesetzt formuliert.

Charlotte ist geschmeichelt - einfach darum, weil ein so bedeutender Mann ihr geschrieben hat. Sie antwortet ihm, daß sie aufhören will, ehrgeizig daran zu denken, ihre Texte könnten je gedruckt erscheinen. »Wenn der Wunsch noch einmal in mir aufsteigt, werde ich mir Southeys Brief ansehen und ihn unterdrücken. Es ist genug Ehre für mich, daß ich ihm geschrieben habe und eine Antwort bekam.« Dieser Brief wiederum rührt Southey so, daß er sie zu sich einlädt, sollte sie je in seine Gegend kommen. Charlotte kritzelt mit ihrer kleinen Schrift auf den Brief des großen Meisters:

»Für immer will ich mich an Southeys Rat halten.« Das ist genau an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag.

Sie hält sich nicht an ihr großartiges Gelübde. Vier Jahre später schreibt sie wieder an einen anerkannten Dichter, diesmal an Wordsworth, und sie legt den Anfang eines neugeplanten Buches bei. Daß sie eine Frau ist, erwähnt sie nicht. Aus den Initialen ihrer Unterschrift geht das auch nicht hervor. Aber gerade das will der Dichter von ihr wissen. Eine feminine Handschrift hat er eindeutig erkannt, weibliche Züge im Stil und in der Phantasie - »sie« oder »er« soll das Geheimnis lüften. Im übrigen, so befindet er, sei ihr Text eine Imitation des damals so beliebten Richardson.

Charlotte hat dazugelernt. Sie ist nicht mehr die demütige Bewunderin anerkannter Genies. Sie hat Anleitung und Kritik erwartet, aber keine Einordnung als »weiblicher« oder »nicht-weiblicher« Schriftsteller. Vielleicht ist das, was sie schreibt, so gut, daß es gedruckt werden könnte? Natürlich ist das für sie eine Art Traumvorstellung. Sie und ihre Geschwister haben Scott, Byron, Wordsworth, Southey, Shakespeare und Milton gelesen. Vielleicht ist es vermessen, sich damit zu vergleichen. Vielleicht auch nicht? Es ist so etwas wie grimmige Entschlossenheit, die Charlotte Brontë im Sommer des Jahres 1845 zur Tat treibt. Sie und ihre Geschwister sind zu jenem Zeitpunkt alle daheim in ihrem geliebten Pfarrhaus in Yorkshire. Zufällig entdeckt Charlotte Gedichte ihrer Schwester Emily. Natürlich weiß sie, daß Emily dichtet - das haben ja alle Brontë-Kinder von Kindheit an getan. Dennoch haben sie, verschwiegen wie sie sind, sich ihren eigenen Freiraum bewahrt, jedes für sich. Sie haben sich gegenseitig viel vorgelesen und sich gegenseitig viel verschwiegen. Jetzt also steht Charlotte, die große Schwester, da und hat Emilys Gedichte in der Hand und eine unabänderliche Idee im Kopf: Wir Schwestern werden gemeinsam ein Buch herausgeben. Wir werden das ganz kühl und sachlich angehen. Jede von uns steuert das beste bei, was sie bis jetzt geschrieben hat. (Endgültig war es so, daß Charlotte 23 Gedichte lieferte, Emily 22 und Anne 21.) Weiter, so wird es Charlotte nach ihren Erfahrungen klar, darf niemand wissen, daß wir Frauen sind. Wir wollen uns hinter Pseudonymen verstecken. Wir nehmen also drei verschiedene Vornamen an. Jede behält ihren Anfangsbuchstaben und bastelt daraus einen Namen, der nicht sofort erkennen läßt, ob der Name zu einem Mann oder einer Frau gehört. Wir könnten ja auch drei Brüder sein, oder?

Sie nennen sich C(= Charlotte)urrer, E(= Emily)llis und A(= Anne)cton Beil, als sie ihre Gedichte an einen Verleger schicken.

»Sagen Sie mal, wieso kommen in letzter Zeit so oft Briefe an einen Mr. Currer Beil?« erkundigt sich eines Tages neugierig der Postbote bei Patrick Brontë. »Also, das muß ein Irrtum sein«, entgegnet der Vater der drei heimlichen Dichterinnen, »in meiner Pfarrgemeinde gibt es keinen Mr. Bell.« Er hat tatsächlich keine Ahnung vom Treiben seiner Töchter. Nichtsahnend läßt er ein Päckchen, in dem der Londoner Verleger einen Stapel Korrekturbögen an »Mr. Currer Beil« gesandt hat, zurückgehen. Zum Glück erfährt Charlotte, was geschehen ist. Von nun an erbittet sie alle Post an »C. Beil c/o Miss Brontë«.

Die drei haben also wahrhaftig einen Verleger gefunden, nachdem sie sich bereit erklärt haben, einen großen Teil der Druckkosten selbst zu übernehmen. Viel Geld besitzen sie nicht. Die Summe, die ihnen eine Tante vererbt hat, reicht gerade aus. Noch können sie kaum glauben, daß sich ihr Traum erfüllen wird: Sie werden ein Buch in Händen halten, das sie selbst geschrieben haben. Ihre Sätze werden gedruckt erscheinen. Sie sind voll erregter Vorfreude. Abends, wenn sie allein im Wohnzimmer sitzen, sprechen sie über das Ereignis. Alle drei schreiben in diesem Winter 1845 an einem Roman. Manchmal liest Charlotte vor, was sie verfaßt hat. Anne und Emily laufen dabei eingehakt wie zwei Schulmädchen durch das Wohnzimmer, während sie zuhören. »The Professor« soll Charlottes Roman heißen. Anne hat ihrem Buch, das im Entstehen ist, den Titel »Agnes Grey« gegeben. Emily nennt ihre Geschichte »Wuthering Heights«. Alle drei schreiben übrigens in der ersten Person. Annes »Ich« heißt Agnes Grey, Emilys Mr. Lockwood und Charlottes William Crimsworth. Wieder, so hat es Charlotte beschlossen, wollen sie einen gemeinsamen Band herausgeben. Sie teilt dem Londoner Verleger mit, daß »E., C. und A. Beil« an Romanen arbeiten. Sie wollen sich also weiterhin hinter Pseudonymen verstecken. Sie haben allen Grund dazu. Denn: »Mann« wird von der Literaturkritik ernster genommen als »Frau«. Und: Ein Deckname schützt Frauen, die Bücher veröffentlichen, vor der Empörung, die solches Tun im Verwandten- und Bekanntenkreis auslöst. Schließlich noch: Nur so können Frauen auch Texte publizieren, die über die sogenannte »weibliche Phantasie« und den »weiblichen Themenbereich« hinausgehen. Charlotte hat das als erste der drei Brontës ganz klar erkannt. Schon als Kind muß ihr diese Tatsache bewußt gewesen sein - gab sie sich doch damals in ihren ersten Schreibversuchen häufig Männernamen: Charles Thunder. Charles Townsend. Captain Tree.

Im Mai 1846 erscheint der Gedichtband der »Brüder Beil« auf dem Buchmarkt. Im Juli heißt es in einer Kritik in der Zeitschrift »Athenaeum«, daß zweifellos »Ellis Beil« der begabteste der drei Dichter sei. Im übrigen aber geschieht sonst nicht viel. Ganze zwei Exemplare verkauft der Verlag. Die Brontës bringt das nicht aus der Fassung. Sie sind mittlerweile dabei, ihre fertiggestellten Romane von einem Verlag an den nächsten zu schicken. Aus London haben sie eine Liste mit allen wichtigen Verlagsadressen bekommen. Die gehen sie nun der Reihe nach durch. Immer, wenn eine Absage kommt, streicht Charlotte die Anschrift durch - und benutzt wieder dasselbe Packpapier. Ohne Mühe kann der nächste Empfänger sehen, wer schon vor ihm die Manuskripte zurückgeschickt hat. Charlottes Beitrag ist zu dieser Zeit nicht mehr der angefangene Roman »The Professor«, sondern ein Roman, der »Jane Eyre« heißt. Ihr Buch erscheint als erstes gedruckt; das ist im Oktober 1847. Zwei Monate später veröffentlicht ein anderer Verleger die Romane der beiden jüngeren Schwestern. Noch weiß niemand, wer die Autoren »Currer, Ellis und Acton Beil« sind. Viele Buchrezensenten sind verwirrt, weil sich die drei Romane nicht so ohne weiteres einordnen lassen. Es gibt Textstellen, die eigentlich nur eine Frau geschrieben haben könnte, entdecken besonders findige Leser. So wird zum Beispiel bei »Jane Eyre« beschrieben, wie man Gardinenringe befestigt. So etwas kann schließlich nur eine Frau wissen, oder? Andererseits kann keine Frau dieses Buch geschrieben haben, dazu ist es zu unanständig. Zu unkonventionell. Zu brutal. Denn Jane ist zwar arm - aber unabhängig. Sie ist leidenschaftlich - und gibt ihre Gefühle einem Mann gegenüber offen zu. So »grob« würde das eine Frau nie beschreiben. Es sei denn, eine sehr »verdorbene« Type von Frau. Wer nur ist diese(r) Currer Beil? Sind möglicherweise alle diese neu erschienenen »Bell«-Romane vom gleichen Verfasser? Denn auch »Ellis Beil« und »Acton Beil« verstoßen gegen die Regeln. Eine ungewöhnliche und abstoßende Umgebung, Menschen, die von außerordentlicher Leidenschaft besessen sind - diese Grundmotive tauchen in allen drei Veröffentlichungen auf. Ja, und noch immer ahnt Vater Brontë nicht, welches Aufsehen inzwischen seine drei Töchter hervorgerufen haben. Er ist fast erblindet und wird von Charlotte, Emily und Anne liebevoll gepflegt. Eines Abends wagt Charlotte einen Vorstoß:

»Papa, ich habe ein Buch geschrieben!« »Ach - tatsächlich?«
»Ja, und ich möchte gern, daß du es liest.«
»Ich fürchte, das strengt meine Augen zu sehr an.«

Charlotte nimmt all ihren Mut zusammen und gesteht, daß sie ihm kein handgeschriebenes Manuskript zumuten will, sondern ein gedrucktes Werk. Er reagiert heftig: »Du liebe Zeit - hast du dir denn überlegt, was das kostet?! Wer wird denn je ein Buch von dir kaufen? Niemand kennt dich und deinen Namen!«

Charlotte wagt sich noch weiter vor, liest ihm Kritiken vor, die erschienen sind, und nun will er auch seinen zwei anderen Töchtern die Neuigkeit mitteilen. »Mädchen!« ruft er, »wißt ihr schon, daß Charlotte ein Buch geschrieben hat?«

Diese Episode ist überliefert von Charlottes Freundin Mrs. Gaskell, die im vorigen Jahrhundert eine Lebensgeschichte der Charlotte Brontë schrieb. Tatsache ist, daß »Jane Eyre« ein ungewöhnlich großer Erfolg wurde.

Mrs. Gaskell erzählt weiter, daß Charlotte, nachdem ihr erster Roman erschienen war, ein Doppelleben führen mußte. Sie war Currer Beil, der Autor, und Charlotte Brontë, die Frau, die Tochter und die Schwester. Die Pflichten, die sie zu Hause zu erfüllen hatte, nahm ihr niemand ab. Und es warteten mehr häusliche Pflichten auf sie denn je. Das Jahr 1848 begann mit einem harten, kalten Winter. »Jetzt bin ich zweiunddreißig. Die Jugend ist vorbei, vorbei - und kommt nie mehr zurück«, schrieb sie. Sie muß sich erschöpft und unendlich enttäuscht gefühlt haben. Der Vater ist krank. Der Bruder Branwell ist krank. Die Schwester Emily ist krank. Charlotte übernimmt selbstverständlich die Pflege.

Emilys Roman »Sturmhöhe« war von der Kritik schlecht aufgenommen worden. Charlotte schreibt an einem neuen Roman (»Shirley«) und bekommt immer deutlicher zu spüren, welchen Platz sie in der »Welt der Literatur« einnimmt. Es geht nach wie vor darum, herauszutüfteln, ob »Currer Beil« weiblichen oder männlichen Geschlechts ist.

»Das Buch muß eine Frau geschrieben haben«, steht in einem Artikel im Dezember 1848 in der »Quarterly Review«, der sich mit »Jane Eyre« befaßt. »Sie muß eine Frau sein, die ihr Geschlecht aus hinreichenden Gründen der Gesellschaft lange verschwiegen hat.«

Als diese Sätze erscheinen, liegt Emily Brontë im Sterben. Anne Brontë ist schwer lungenkrank. Branwell Brontë ist zwei Monate zuvor gestorben. Charlotte, die Frau, »die der Gesellschaft etwas verschweigen wollte«, ist allein mit ihrem Vater und der todkranken Schwester. »So dunkle Augenblicke in meinem Leben habe ich noch nie gekannt«, schreibt sie. »Ich versuche jetzt, nicht mehr vorwärts oder rückwärts zu blicken, ich versuche, nur nach oben zu schauen.«

Sie verliert im kommenden Jahr - im Frühjahr 1849 - auch ihre jüngste Schwester, Anne. Emily und Anne waren die Menschen, die sie zutiefst verstanden. Alle drei verband ein gemeinsamer Traum. Charlotte, die große Schwester, bleibt übrig, ihn zu verwirklichen. Als im Januar 1850 ihr Buch »Shirley« in der »Edinburgh Review« besprochen wird (als »Frauen«-Roman besprochen wird), antwortet sie dem Rezensenten Lewes: »Ich hätte lieber Kritiker, die mich als Autor beurteilen, nicht als Frau!«Längst ist das »Geheimnis« öffentlich geworden. Viele kleine Einzelheiten (zum Beispiel die Tatsache, daß Stellen in den Romamen der Brontës im typischen Dialekt ihrer Gegend geschrieben sind> führten zur Spur in das Pfarrhaus der Brontës. Hier also sind diese wild-wuchernden Texte entstanden, in einem frommen Haus, geschrieben von Frauen. »Wenn ich schreibe, kann ich nicht immer daran denken, was >elegant< und >charmant< und >weiblich< ist«, äußerte sich Charlotte Brontë 1849 - und sprach damit aus, was auch in ihren Schwestern vor sich ging. »Mit solchen Gedanken habe ich nie die Feder in die Hand genommen, und wenn ich nur nach solchen Gesichtspunkten beurteilt werde, dann möchte ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und niemand mehr stören.«

Charlotte heiratete mit 38 Jahren, und da war wohl ein gut Teil Vernunft und wenig Leidenschaft im Spiel. Sie starb, neun Monate später, als sie ein Kind erwartete.

Um sie und ihre zwei Schwestern entstand schon im vorigen Jahrhundert eine Legende, ein Mythos, ein Kult. Harriet Beecher-Stowe zum Beispiel (die Autorin von »Onkel Toms Hütte«) hat 1872, das ist 17 Jahre nach Charlotte Brontës Tod, ein »Jenseitsgespräch« mit der Verstorbenen geführt.

Eine englische Autorin namens L. B. Walford pflegte in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Journalisten das Tee-Geschirr vorzuführen, das sie aus dem Nachlaß der Brontës ersteigert hatte. Und heutzutage gibt es im Londoner Kaufhaus »Harrods« neben vielen ausgefallenen Spezialitäten einen Brontë-Kuchen und einen Brontë-Likör.

Daß Romane wie »Jane Eyre« und »Wuthering Heights« in die Literaturgeschichte ein neues Frauenbild brachten, hat die Zeitgenossen der Brontë-Schwestern verwirrt. Daß ihr Schreiben wirklich ernstgenommen wird, hat keine der drei Schriftstellerinnen erlebt.


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copyright 1997 by Norgard Kohlhagen

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